Donauwoerther Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (34)

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WNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

enn du heucheln willst, dann nicht so! Glaub mir, nicht so! Das nimmt dir kein Mensch ab! Schau, du musst doch jetzt endlich erwachsen werden. Und du musst dein Leben irgendwie wieder auf die Reihe kriegen. In der letzten Zeit ist bei dir alles Mögliche schief gegangen, und wir wissen beide, warum.“

Tommy sah mich verwirrt an. Als er sicher war, dass ich zu Ende gesprochen hatte, sagte er: „Du hast Recht. Manches ist schief gegangen. Aber ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst, Kath. Was soll das heißen, wir wüssten es beide? Woher solltest du es wohl wissen? Ich hab’s niemandem erzählt.“

„Natürlich weiß ich keine Details. Aber es weiß doch jeder, dass du dich von Ruth getrennt hast.“

Tommy blickte immer noch verwirrt drein. Schließlic­h lachte er noch einmal kurz auf, diesmal allerdings war es echt. „Verstehe“, murmelte er, dann schwieg er und dachte über etwas nach. „Um ehrlich zu sein, Kath“, sagte er endlich, „das

ist es nicht, was mich fertig macht. Es ist etwas ganz anderes. Ich muss einfach die ganze Zeit daran denken. Es hat mit Miss Lucy zu tun.“

Und so erfuhr ich, was im Frühsommer zwischen Tommy und Miss Lucy geschehen war. Später, nachdem ich Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenk­en, rechnete ich mir aus, dass es höchstens ein paar Tage nach meiner Begegnung mit Miss Lucy in Zimmer 22 gewesen sein kann. Und ich kann es nur wiederhole­n: Ich hätte mich selbst dafür ohrfeigen können, dass ich es nicht früher erraten hatte.

Es war am Nachmittag gewesen, nahe der „toten Stunde“, wenn der Unterricht vorbei war, aber noch genug Zeit blieb, um bis zum Abendessen ins Freie zu gehen. Tommy hatte Miss Lucy aus dem Haupthaus kommen sehen, die Arme voller Flipcharts und Karteikäst­en, und weil es so aussah, als könnte sie jeden Moment etwas fallen lassen, lief er hinüber und bot ihr seine Hilfe an.

„Sie gab mir also ein paar Sachen zu tragen und sagte, das ganze Zeugs müsste in ihr Arbeitszim­mer. Es war sogar für uns beide zu viel, und mir fiel unterwegs ein paarmal was auf den Boden. Als wir schon fast bei der Orangerie waren, blieb sie so plötzlich stehen, dass ich schon dachte, sie hätte wieder was fallen lassen, aber sie sah mich an, so, direkt ins Gesicht und todernst. Dann sagte sie, wir müssen miteinande­r reden, richtig reden. Ich sage, okay, und wir gehen in die Orangerie, in ihr Arbeitszim­mer, und laden die Sachen ab. Und sie sagt, ich soll mich niedersetz­en, und schließlic­h sitze ich genau dort, wo ich damals war, du weißt schon, vor Jahren. Und ich sehe ihr an, dass sie sich ebenfalls erinnert, denn sie knüpft nahtlos daran an, als wär’s am Tag zuvor gewesen. Keine Erklärunge­n, nichts – sie fängt einfach aus heiterem Himmel an: ,Tommy, was ich gesagt habe, war ein Fehler. Und ich hätte es schon viel eher in Ordnung bringen müssen.‘ Dann sagt sie, ich soll alles vergessen, was sie früher gesagt hat. Dass sie mir einen ganz schlechten Dienst erwiesen hat, als sie sagte, kreativ sein sei nicht so wichtig. Dass die anderen Aufseher schon immer Recht gehabt hätten und dass es keine Entschuldi­gung gibt, wenn ich immer nur Mist mache statt Kunst…“

„Moment mal, Tommy. Hat sie wirklich gesagt, du machst ,Mist‘?“

„Wenn es nicht dieses Wort war, dann war’s ein ähnliches. Nicht der Rede wert. Das könnte es gewesen sein. Oder inkompeten­t. Sinngemäß hat sie ,Mist‘ gesagt. Sie sagte, dass sie ihre Einmischun­g sehr bedauert, denn wenn sie nichts gesagt hätte, hätte ich mich in der Zwischenze­it bemüht und wäre schon viel besser geworden.“

„Und was hast du die ganze Zeit gesagt?“

„Mir fiel überhaupt nichts ein. Am Ende fragte sie mich direkt. Sie sagte: ,Tommy, was denkst du?‘ Also sagte ich, keine Ahnung, aber sie müsse sich jedenfalls keine Sorgen machen, denn jetzt sei schon alles in Ordnung, und es gehe mir gut. Und sie sagte, nein, nichts ist in Ordnung, du bist nicht kreativ, sondern machst nur Mist, und das ist zum Teil meine Schuld, weil ich dir damals gesagt habe, es sei nicht weiter wichtig. Und ich sagte, was spielt das denn für eine Rolle? Mir geht’s gut, und keiner lacht mehr über mich. Aber sie schüttelte immer weiter den Kopf und sagte: ,Es spielt sehr wohl eine Rolle. Ich hätte das nicht sagen sollen.‘ Deshalb fällt mir ein, dass sie vielleicht von später spricht, weißt du, wenn wir nicht mehr hier sind. Also sage ich: ,Aber es wird schon alles gut werden, Miss. Ich bin wirklich fit, ich kann auf mich aufpassen. Wenn es Zeit für die Spenden ist, werd ich’s richtig gut machen.‘ Als ich das sage, schüttelt sie wieder den Kopf, so stürmisch, dass ich schon Angst hatte, es wird ihr schwindlig davon. Und dann sagt sie: ,Hör zu, Tommy, deine Kunstferti­gkeit ist wichtig. Und nicht nur deshalb, weil sie ein Zeugnis ist. Sondern um deiner selbst willen. Du wirst sehr viel davon haben, einfach deinetwege­n‘.“

„Moment mal. Was meint sie mit ,Zeugnis‘?“

„Weiß ich nicht. Aber genau das hat sie gesagt. Sie sagte, unsere Kreativitä­t sei wichtig, und ,nicht nur deshalb, weil sie ein Zeugnis ist‘. Gott weiß, was sie damit meint. Ich hab sie sogar danach gefragt. Ich sagte, ich verstehe nicht, was sie mir sagen will, und ob es was mit Madame und ihrer Galerie zu tun hat. Woraufhin sie tief seufzte und sagte: ,Madame’s Galerie, ja, die ist wichtig. Viel wichtiger, als ich früher dachte. Das sehe ich jetzt ein.‘ Dann sagte sie noch: ,Schau, es gibt alles Mögliche, was du nicht verstehst, Tommy, und ich kann dir nichts darüber sagen. Über Hailsham, über deinen Platz in der Welt draußen, alles. Aber vielleicht versuchst du es eines Tages selbst herauszufi­nden. Sie werden es dir nicht leicht machen, aber wenn du’s willst, wenn du’s wirklich wissen willst, wirst du’s vielleicht erfahren.‘ Danach schüttelte Miss Lucy wieder den Kopf, aber nicht mehr so wild wie vorher, und sagte: ,Wieso solltest du allerdings eine Spur anders sein? Die Kollegiate­n, die von hier fortgehen, finden nie besonders viel heraus. Wieso sollte es bei dir anders sein?‘ Ich wusste wieder nicht, wovon sie redete, und sagte deswegen noch mal: ,Es wird schon alles gut werden, Miss.‘ Sie schwieg eine Weile, dann stand sie plötzlich auf und beugte sich so halb über mich und umarmte mich. Nicht aufreizend. Eher so, wie sie’s mit uns gemacht haben, als wir klein waren. Ich hielt einfach so still wie möglich. Dann trat sie zurück und sagte noch einmal: ,Was ich früher gesagt habe, tut mir sehr Leid.‘ Und dass es noch nicht zu spät sei, sagte sie, ich sollte nur gleich anfangen, um die verlorene Zeit wettzumach­en. Ich glaube nicht, dass ich irgendwas erwiderte, sie sah mich an, und ich dachte schon, gleich umarmt sie mich noch mal. Aber sie sagte nur: ,Tu’s einfach mir zuliebe, Tommy.‘ Ich versprach es ihr, denn inzwischen wollte ich nur noch raus. Wahrschein­lich war ich schon leuchtend scharlachr­ot, nach diesem vielen Umarmen und allem. Ich meine, das ist doch was ganz anderes, jetzt, wo wir größer sind, nicht?“

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