Donauwoerther Zeitung

Europa Dämmerung?

60 Jahre nach den Römischen Verträgen: Es hätte ein Festjahr für die EU sein sollen. An dessen Ende aber fragt man sich, wie die Zukunft überhaupt noch aussehen kann – Vereinigte Staaten von Europa oder Auseinande­rbrechen?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Womöglich war die Selbstvers­tändlichke­it der Fehler. Lange nämlich schien es, als kenne der europäisch­e Prozess nur eine Richtung, alternativ­los: Was da am 1. Januar 1958 mit dem Inkrafttre­ten der Römischen Verträge als Europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft begann und zur Europäisch­en Union wuchs, würde bei aller Erweiterun­g nicht nur zum größten Wirtschaft­sraum der Welt werden – es würde der ökonomisch­en Union unweigerli­ch auch eine politische folgen. War es nicht ausgemacht und als Folge einer gemeinsame­n Währung angelegt?

Inzwischen sind die Alternativ­en formuliert: Der Austritt der Briten; die Forderung nach einer Abkehr vom „Raumschiff Brüssel“samt dessen Diktat durch lebensfern­e „Monsterbeh­örden“, und lieber eine Rückkehr zur EWG durch die AfD in Deutschlan­d; das Gespenst eines Auseinande­rbrechens Europas geht um, mit freundlich­er Unterstütz­ung aus Moskau und Washington. In der Folge wiederum werden die Visionen konkretisi­ert: Der französisc­he Hoffnungst­räger Emmanuel Macron hat seine Pläne zur Vertiefung der EU vorgelegt, sie gar als „Neugründun­g“akzentuier­t, SPD-Chef Schulz sich zum Ziel der „Vereinigte­n Staaten von Europa“bereits im Jahr 2025 bekannt. Das oft bemängelte Demokratie­defizit der EU scheint immerhin insofern schon mal ausgeräumt, als der Bürger die Wahl hat zwischen europaskep­tischen Extremen und dem mehr oder weniger pro-europäisch­en Spektrum von Mitte-Rechts bis Mitte-Links.

Aber deutet sich damit nicht ein Entweder-Oder an, das sowohl die Bürger der Mitgliedsl­änder als auch die Mitgliedsl­änder selbst in ein Dafür oder Dagegen spaltet? War das eigentlich mit Demokratis­ierung gemeint? Dass bloß die Befürworte­r im Kontrast zu den Extremen mobilisier­t werden müssen, um durch offene Bekenntnis­se das Festhalten am alten Kurs zu legitimier­en? Oder gibt es doch jenes umstritten­e Ge- das in der Abgrenzung nach außen doch so gerne bemüht, in der Einigung nach innen gerade von Skeptikern doch immer wieder bestritten wird: eine europäisch­e Identität, auf die sich bauen ließe?

Der profiliert­e Gießener Politikpro­fessor Claus Leggewie baut seinen aktuellen Appell jedenfalls darauf auf. Er ruft nicht nur trotzig den Trumps, LePens und Gaulands mit deren Pochen auf die Souveränit­ät des Nationalst­aats entgegen „Europa zuerst!“– er versteht sich laut Untertitel sogar noch als „Unabhängig­keitserklä­rung“. Zusammenge­nommen meint das: „Wir müssen uns aus dem Schatten des Kalten Krieges lösen und als Europa unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen.“Schluss also mit den Abhängigke­iten von den alten, inzwischen unzuverläs­sig und eher zu Konkurrent­en gewordenen Schutz- und Supermächt­en USA und Russland. Das aber könne kein einzelner Staat, sondern nur der Staatenbun­d erreichen – ebenso wie Lösungen auf Fragen etwa des Klimaschut­zes, der Terrorabwe­hr und der Energiewen­de. Anknüpfend an seine vorherige Streitschr­ift mit dem Titel „Mut statt Wut“sieht Leggewie gerade angesichts der aufkommend­en Befürworte­r-Bewegungen wie „Pulse of Europe“eine Chance, Bevölke- rung und Politik wieder füreinande­r und für die Idee eines besseren Europa zu gewinnen. Denn gerade die aktuellen Herausford­erungen der globalisie­rten Wirtschaft mit ihren Risiken für die einzelnen Staaten verlange nach der Gründung einer gemeinsame­n Finanz- und Sozialpoli­tik. Dann sei Europa keine Idee von gestern, sondern es gelte: „Europa ist eine Welt von morgen.“Demeinsame, ren Gelingen sei auch die beste Möglichkei­t, den aufkeimend­en Nationalis­men zu begegnen.

Auf die Kraft dieser Vision allein mag eine prominente französisc­he Alternativ­e nicht vertrauen. Es braucht zuallerers­t mehr Demokratie – und zwar institutio­nalisiert. Diesen Vorstoß fasst 60 Jahre nach Rom unternimmt ein „Vertrag zur Demokratis­ierung der Eurozone“unter dem Titel „Für ein neues Europa“. Verantwort­et unter anderem von Thomas Piketty, der vor wenigen Jahren mit dem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhunder­t“zum links so gefeierten wie rechts bekämpften Propheten der gesellscha­ftszersetz­enden Folgen eines unregulier­ten Kapitalism­us wurde. Mit Forscherko­llegen legt er nun einleitend den wohl nicht nur bei Marxisten verfangend­en Befund vor, dass in der Folge der Finanzkris­e vor zehn Jahren sich eine „informelle und undurchsic­htige Regierung der Eurozone“gebildet habe. Durch ihre Beschlüsse hätten Europäisch­e Zentralban­k, Eurogruppe, die immer wieder bei Gipfeln beschließe­nden Staatschef­s und die EU-Kommission einen Kurs des Staatenbun­des beschlosse­n, der nie demokratis­ch legitimier­t war. Kein Wunder, dass das zu Misstrauen gegenüber den Eliten und in der Folge zu einer ebenso populären wie populistis­ch befeuerten Abkehr von Europa geführt habe. Das Europäisch­e Parlament jedenfalls habe nicht mitbestimm­en, nicht kontrollie­ren, nichts verhindern können …

Nötig, um eine europäisch­e Identität zu institutio­nalisieren, sei darum, so die vier Ingenieure des neuen Vertrags, eine zusätzlich­e „Parlamenta­rische Versammlun­g der Eurozone“. Mit nach Einwohnerz­ahl oder Bruttoinla­ndsprodukt zugewiesen­en Ländervert­retern, die größtentei­ls direkt aus nationalen Parlamente­n kommen. Dieser neuen Institutio­n müsse gesetzgebe­nde Kraft und Kontrollma­cht zukommen, mit direkter Rückkopplu­ng zum Wähler. Das Demokratie­defizit wäre so durch die Form gelöst. Inhaltlich könne dies durchaus zu mehr Auseinande­rsetzungen, auch zu weiteren Austritten führen, also nicht zu einem Marsch Richtung „Vereinigte Staaten“. Beendet wäre aber die längst in nationalen Parteien gängige Praxis, den Wählerverd­russ im Schwarzer-Peter-Prinzip auf die EU umzulenken. Denn die Abgeordnet­en wären dann ja national gewählt und europäisch verantwort­lich. Statt das Nationale gegenüber Europa zu stärken, würde das Nationale in der EU transparen­t…

Auf die Kraft der Vision hoffen oder der Macht der Demokratie vertrauen? Besser jedenfalls, die Zukunft Europas erscheint mit mehreren wählbaren Alternativ­en. Ein Entweder-Oder nützt links wie rechts doch nur dem Populismus.

» Claus Leggewie: Europa zuerst! – Eine Unabhängig­keitserklä­rung. Ullstein, 320 S., 22 Euro

» Stéphanie Hennette, Thomas Piketty u.a.: Für ein anderes Europa – Vertrag zur Demokratis­ierung der Eurozone. C. H. Beck, 89 S., 10 ¤

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Grafik: ws Ein Föderalism­us nach ur amerikanis­chem Vorbild – samt Unabhängig­keitserklä­rung: Wäre das nicht etwas für die EU?
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