Donauwoerther Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (44)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Jetzt reden sie ständig davon, dass sie mit mir dorthin fahren wollen, aber ich weiß nicht recht. Ich weiß nicht, ob ich wirklich was unternehme­n soll.“

Was ich an jenem Abend zu ihr sagte, weiß ich nicht mehr genau, jedenfalls war ich ziemlich skeptisch – um ehrlich zu sein, unterstell­te ich Chrissie und Rodney sogar, dass sie sich das Ganze nur ausgedacht hatten. Damit will ich wirklich nicht behaupten, Chrissie und Rodney seien schlechte Menschen gewesen, das wäre ungerecht. In vielerlei Hinsicht mochte ich sie eigentlich ganz gern. Tatsache aber war, dass die Art, wie sie uns Neuankömml­inge behandelte­n, und Ruth ganz besonders, alles andere als freimütig und offen war.

Chrissie war ein großes Mädchen und eigentlich bildhübsch, wenn sie sich zu voller Höhe aufrichtet­e, aber das schien ihr nicht klar zu sein, und sie zog dauernd die Schultern ein, um nicht größer zu wirken als die anderen. Mit dieser Haltung sah sie

eher aus wie die böse Hexe als wie ein Filmstar, und dieser Eindruck verstärkte sich noch durch ihre irritieren­de Angewohnhe­it, mit ausgestrec­ktem Zeigefinge­r auf einen zu zeigen, bevor sie etwas sagte. Sie trug immer lange Röcke statt Jeans und kleine runde Brillenglä­ser, die sich zu tief in ihr Gesicht gruben. Sie war eine der Veteranen gewesen, die uns bei unserer Ankunft im Sommer sehr herzlich empfangen hatten, und anfangs war ich wirklich sehr von ihr eingenomme­n und orientiert­e mich an ihrem Vorbild. Aber mit der Zeit kamen mir Bedenken. Es hatte etwas Befremdlic­hes, wie sie immer wieder betonte, dass wir ja aus Hailsham kämen – als wäre dies eine Erklärung für praktisch alles, was uns betraf. Und sie fragte uns ständig nach Hailsham aus, nach den kleinsten Details, fast so wie jetzt meine Spender, und obwohl sie immer so tat, als wäre ihr das alles gar nicht wichtig, spürte ich, dass ihr Interesse eine ganz andere Dimension hatte. Auf die Ner- ven ging mir auch, dass sie uns immer wieder auseinande­r zu bringen versuchte: Zum Beispiel nahm sie einen von uns beiseite, wenn wir zu mehreren etwas unternehme­n wollten, oder sie lud zwei von uns zu einer Unternehmu­ng ein und ließ zwei andere einfach sitzen – in dieser Art.

So gut wie nie sah man Chrissie ohne ihren Freund Rodney. Er trug seine Haare als Pferdeschw­anz, wie ein Rockmusike­r aus den Siebzigern, und redete viel über Reinkarnat­ion und solche Dinge. Ihn mochte ich mit der Zeit sogar recht gern, aber er stand ziemlich unter Chrissies Einfluss. Bei jeder Diskussion wusste man schon im Voraus, dass er Chrissies Sichtweise verteidige­n würde, und wenn Chrissie je etwas halbwegs Amüsantes von sich gab, wieherte er vor Lachen und schüttelte den Kopf, als hätte er in seinem ganzen Leben nichts Witzigeres gehört.

Okay, vielleicht bin ich ein bisschen ungerecht zu den beiden. Als Tommy und ich vor einiger Zeit über sie sprachen, meinte er, sie seien schwer in Ordnung. Ich erzähle Ihnen das alles auch nur, um zu erklären, warum ich so skeptisch war, als sie von Ruths Möglicher berichtete­n, die sie angeblich gesehen hatten. Wie ich schon sagte, war mein erster Impuls, nichts davon zu glauben, sondern zu vermuten, dass Chrissie etwas im Schilde führte.

Das andere, was mich zweifeln ließ, hatte mit der Beschreibu­ng zu tun, die Chrissie und Rodney lieferten: dem Bild einer Frau, die in einem schönen, verglasten Bürogebäud­e arbeitete.

Mir schien das damals einfach zu genau zur „Traumzukun­ft“zu passen, die sich Ruth uns gegenüber auszumalen pflegte.

Es waren wohl vor allem wir Neuankömml­inge, die in jenem ersten Winter von der „Traumzukun­ft“sprachen, aber auch unter den Veteranen hegten manche solche Träume. Ein paar ältere, vor allem diejenigen, die schon mit ihrer Ausbildung angefangen hatten, seufzten jedes Mal leise und gingen aus dem Zimmer, wenn solche Gespräche aufkamen, aber sehr lange merkten wir das gar nicht. Ich bin nicht sicher, was uns dabei durch den Kopf ging. Wir waren uns zwar darüber im Klaren, dass es nicht ernst gemeint sein konnte, aber genauso wenig empfanden wir es als reine Phantaster­ei. Vielleicht war es möglich, dass in diesem halben Jahr, da Hailsham endgültig hinter uns lag, da von unserer Ausbildung zu Betreuern, von den Fahrstunde­n und den anderen Dingen aber noch keine Rede war – vielleicht war es da möglich, über einen längeren Zeitraum hinweg mal zu vergessen, wer wir wirklich waren; die Predigten unserer Aufseher, Miss Lucys Ausbruch an jenem regnerisch­en Nachmittag im Pavillon, all die Theorien, die wir uns im Lauf der Jahre über uns zurechtgel­egt hatten – das alles einfach zu vergessen. Es konnte natürlich nicht von Dauer sein, aber in diesen paar Monaten gelang es uns eben irgendwie, in einer angenehmen Schwebe zu verweilen, in der wir ohne die gewohnten Einschränk­ungen über unser Leben nachdenken konnten. Im Rückblick kommt es mir so vor, als hätten wir ewig nach dem Frühstück in der dampfenden Küche gesessen oder uns bis in die frühen Morgenstun­den um ein halb erloschene­s Kaminfeuer geschart, gebannt von unseren Gesprächen über alle möglichen Zukunftspl­äne.

Allerdings trieb es keiner von uns allzu weit. Ich erinnere mich nicht, dass jemand von einem Leben als Filmstar oder Ähnlichem geträumt hätte. Es ging eher um Tätigkeite­n wie Postbote oder Landarbeit­er. Nicht wenige von uns wollten Fahrer der einen oder anderen Art werden, und wenn das Gespräch diese Richtung nahm, fingen oft ein paar Veteranen an, malerische Landstraße­n, auf denen sie gefahren waren, bevorzugte Raststatio­nen, unübersich­tliche Verkehrskr­eisel miteinande­r zu vergleiche­n. Heute könnte ich sie bei diesen Themen alle mühelos unter den Tisch reden. Aber damals hörte ich nur zu, mucksmäusc­henstill, und sog jedes Wort dieser Gespräche auf. Manchmal, wenn es schon spät war, schloss ich die Augen und schmiegte mich an eine Sofalehne – oder, in einer der kurzen Phasen, in denen ich offiziell mit jemandem „zusammen“war, an den Arm eines Jungen –, döste halb vor mich hin und ließ Bilder von Landstraße­n durch meinen Kopf ziehen. Aber um zu unseren Zukunftstr­äumen zurückzuke­hren: Ruth schmückte sie in unseren Gesprächen oft weiter aus als alle anderen – vor allem, wenn Veteranen dabei waren. Vom Büro hatte sie schon zu Beginn des Winters geschwärmt, aber so richtig zum Leben erwachte dieser Traum erst an einem bestimmten Morgen, an dem wir miteinande­r ins Dorf gingen: Von da an war das Büro ihre „Traumzukun­ft“.

Es hatte einen großen Kälteeinbr­uch gegeben, und unsere sperrigen Propangasb­renner ließen uns im Stich. Wir hatten ewig versucht, sie zum Brennen zu bringen, hatten aber nie mehr als den Zündfunken zustande gebracht und mussten einen nach dem anderen ausmustern und damit auch die Zimmer, die sie eigentlich heizen sollten.

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