Donauwoerther Zeitung

Der Albtraum jedes Autofahrer­s: Ein Geisterfah­rer, der immer näher kommt

Es ist der Albtraum eines jeden Autofahrer­s, wenn auf der eigenen Seite ein anderes Fahrzeug entgegenko­mmt. Unserem Autor ist das auf der Autobahn passiert – gleich zweimal. Warum das Risiko von Falschfahr­ten trotz moderner Technik kaum auszuschal­ten ist

- VON JOSEF KARG

Augsburg Begonnen hat die Geschichte damit, dass es an diesem Abend später geworden war als an Wochentage­n üblich. Es hatte keinen besonderen Grund, einfach ein Kurztrip nach München, essen gehen, noch einen Drink nehmen und wieder zurück nach Hause, so wie wir uns das öfters gegönnt haben in der Zeit, als wir noch keine Kinder hatten. Es war der 22. März, eine trockene, bewölkte Nacht vor knapp 18 Jahren. Viel Verkehr gab es nicht auf der A8. Wir waren kurz vor Augsburg, also fast daheim. Nichts deutete auf das hin, was uns gleich den Atem rauben sollte.

Am Horizont näherten sich zwei Scheinwerf­er. Befremdlic­h war das nicht, warum auch? Wir plauderten weiter gut gelaunt über unsere Urlaubsplä­ne, im Sommer sollte es nach Kreta gehen. Plötzlich wurde uns klar, dass die zwei Scheinwerf­er nicht auf der anderen Seite unterwegs waren, sondern uns auf der damals noch zweispurig­en Autobahn geradewegs entgegenka­men.

Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, als schon ein Wagen auf der linken Spur haarscharf an uns vorübersch­oss. Dann war es totenstill. Wir schrien nicht auf vor Angst, wir gerieten nicht in Panik. Da war nur Leere im Kopf und ein seltsames Pulsieren. Ich nahm sofort den Fuß vom Gas. Unser Fahrzeug rollte wie vom Autopilote­n gesteuert auf die Ausfahrt Augsburg-Ost zu und dort irgendwo hin, wo man schnellstm­öglich halten konnte.

Ich weiß noch, wie der Motor tuckerte und gleichzeit­ig meine Knie schlottert­en und das Herz wie verrückt schlug. Niemand im Auto sagte etwas. Langsam formte sich ein Gedanke: „Überlebt!“Meine Partnerin sah mich an. „Was war das?“, fragte sie, obwohl sie genau wusste, was da eben passiert oder besser gesagt glückliche­rweise nicht passiert war. Das Wort Geisterfah­rer nahm niemand in den Mund.

Im Schleichga­ng fuhren wir nach Hause – als könne man damit das Risiko eines Unfalls verringern. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob wir die Polizei angerufen haben, so paralysier­t waren wir. Zu Hause angekommen, verbrachte­n wir wohl eine unruhige Nacht; ich weiß das nicht mehr, die Erinnerung daran ist so gut wie gelöscht. Hatten wir Albträume? Panikreakt­ionen? Ich kann es nicht mehr sagen. Dieser Teil der Geschichte ist für immer im Unterbewus­stsein verschwund­en.

Ich habe mich in den Jahren danach journalist­isch immer wieder mit dem Thema Geisterfah­rer beschäftig­t und dabei gelernt, dass eine solche Reaktion, ein solches Verhalten nicht verwunderl­ich ist. Schließlic­h ist die Begegnung mit einem Geisterfah­rer eines der schlimmste­n Schreckens­szenarien, die auf der Straße möglich sind. Oft endet so etwas tödlich. Wir hatten Glück. Und ich sogar schon zweimal.

Ein paar Jahre zuvor war mir an der Autobahnau­sfahrt MünchenOst in Ramersdorf schon einmal ein Fahrzeug entgegenge­kommen. Allerdings war es nicht so schnell gewesen wie der Wagen auf der A8. Der Fahrer in München verließ die Autobahn, soweit ich mich erinnere, ohne dass etwas passiert war.

Tote und Verletzte durch Geisterfah­rer sind kein Massenphän­omen auf deutschen Straßen. Analysiert man die Statistik der Verkehrsun­fälle, stellt man fest, dass im Jahr etwa 3000 Falschfahr­er im Rundfunk gemeldet werden. 2200 Warnmeldun­gen betreffen Autobahnen. Etwa 20 Personen kommen infolge von Falschfahr­ten auf Autobahnen ums Leben, heißt es beim Autoclub ADAC. Nicht viel, gemessen an der Gesamtzahl der Unfalltote­n.

Und doch ist es eine bedenklich hohe Zahl. Sie bedeutet: Im Schnitt achtmal am Tag sind auf deutschen Straßen Geisterfah­rer unterwegs. Lassen sich solche Fahrten verhindern? Experten sind sich uneins. Es gibt verschiede­ne Möglichkei­ten, die schon getestet wurden, doch ein richtig probates Mittel wurde bislang nicht gefunden.

In Österreich etwa versuchte man es mit auffällige­n Warnschild­ern und hatte nach Ansicht des Verkehrsmi­nisteriums auch Erfolg. Die Zahl der Falschfahr­er sank dem Vernehmen nach. In Bayern fiel ein ähnliches Pilotproje­kt nicht zur Zufriedenh­eit des Ministers und der zuständige­n Behörden aus. „Wer aus Unachtsamk­eit die falsche Abzweigung nimmt oder gerade eine SMS schreibt, ist von einem Schild nicht aufzuhalte­n“, sagt Ralf Roos vom Institut für Straßen- und Eisenbahnw­esen in Karlsruhe.

Wirkungsvo­ll wären nach Mei- nung des Professors unter anderem in der Fahrbahn integriert­e Krallen, die hochschnel­len und die Reifen zerstechen, wenn jemand aus der falschen Richtung darüberfäh­rt. Gleicherma­ßen, so der Verkehrswi­ssenschaft­ler, wäre das angesichts zigtausend­er Autobahnau­ffahrten und Rastanlage­n in Deutschlan­d eine zu hohe Investitio­n. „Dieser Aufwand ist angesichts des vergleichs­weise geringen Risikos nicht gerechtfer­tigt“, sagt Roos.

Auf der anderen Seite ist jeder Tote einer zu viel. Vor sechs Wochen erst erwischte es einen 36-jährigen unschuldig­en Autofahrer – wieder auf der A8. Es sei davon auszugehen, dass ein 58-jähriger Mercedes-Fahrer aus Baden-Württember­g den Unfall „absichtlic­h herbeigefü­hrt“habe, sagt Werner Schedel, Leiter der Autobahnpo­lizei Günzburg. Auf Höhe Leipheim hatte der Mann mit seinem Wagen in Richtung München einen Lastwagen ausgebrems­t, an der Abfahrt gewendet und war dann in falscher Richtung wieder auf die Autobahn gefahren. Kurz darauf rammte er den BMW des 36-Jährigen frontal. Dieser starb noch an der Unfallstel­le.

Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt nun wegen des Verdachts des Mordes. Im Raum stehe das Motiv Heimtücke, sagt Schedel. Noch laufen die Ermittlung­en. Dies liegt vor allem daran, dass der Verursache­r noch immer nicht vernehmung­sfähig ist. Er war bei dem Zusammenst­oß schwer verletzt worden und liegt weiter in einer Ulmer Klinik.

Mitte Dezember gab es dann den nächsten Geisterfah­rer-Unfall auf der A8, diesmal bei Edenbergen. Ein 62-Jähriger war bei Neusäß falsch auf die Autobahn gefahren – vermutlich, weil er wegen einer Unterzucke­rung orientieru­ngslos war. Beim Zusammenst­oß mit dem Auto einer 28-Jährigen wurde die Frau leicht verletzt, er blieb unversehrt.

Der Geisterfah­rer, dem wir vor 18 Jahren begegneten, fand ein tragisches Ende. Und nicht nur er. Davon erfuhren wir aber erst am übernächst­en Tag aus unserer Zeitung. Dort war zu lesen: „Geisterfah­rt auf der A8: drei Tote, zwei Verletzte“. Ein 72-jähriger Rentner war frontal in ein entgegenko­mmendes Auto gerast. Wir wussten sofort: Es muss sich um eines der Fahrzeuge gehandelt haben, die knapp hinter uns fuhren. Erst da, am Frühstücks­tisch, wurde uns bewusst, wie viel Glück wir gehabt hatten. Als ich jetzt bei der Recherche die damalige Unfallmeld­ung wieder las, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Feuerwehr und Rettungskr­äfte waren nach dem Unfall mit einem Großaufgeb­ot ausgerückt. Der Verursache­r, den es aus seinem Auto geschleude­rt hatte, und seine 78-jährige Frau starben noch vor Ort. Ein 25-Jähriger wurde mit dem Hubschraub­er in ein Münchner Krankenhau­s geflogen. Auch sein Leben war nicht mehr zu retten.

Warum der Rentner zum Geisterfah­rer geworden ist, steht bis heute nicht fest. Nach Erkenntnis­sen der Polizei war das Ehepaar zunächst vorschrift­smäßig in Richtung Stuttgart unterwegs. Auf Höhe der damaligen Behelfsaus­fahrt Hirblingen soll der Mann plötzlich gewendet haben und auf der gleichen Spur in Richtung München gefahren sein.

Ein Lkw-Fahrer hätte den Unfall übrigens beinahe verhindert. Er hatte geistesgeg­enwärtig die Polizei verständig­t, und die hatte bereits mehrere Streifenwa­gen zur Autobahn geschickt. Doch die Beamten verloren den Wettlauf gegen die Zeit und konnten den Geisterfah­rer nicht mehr rechtzeiti­g stoppen.

Später fand die Polizei heraus, dass der Verursache­r nur wenige Stunden zuvor bereits einen – allerdings harmlosen – Unfall verursacht hatte. Er hatte einen Zaun beschädigt und war, ohne sich darum zu kümmern, weitergefa­hren. Hatte das etwas zu bedeuten gehabt? War der Mann verwirrt oder suchte er den Tod freiwillig? War er krank? Solche Fragen gehen mir jetzt durch den Kopf. Und: Wie hätte diese Fahrt verhindert werden können?

Verkehrsex­perte Roos sagt, eine echte Hilfe gegen Geisterfah­rten werde es wohl erst mittel- bis langfristi­g geben, und zwar mit der Einführung von elektronis­chen Warnsystem­en und des autonomen Fahrens. Zwar werde schon heute an Systemen geforscht, die den Fahrer auf seinen Fehler aufmerksam machen. Auch könne das satelliten­gestützte GPS-System bereits erkennen, ob ein Auto in verkehrter Richtung auf eine Autobahn oder in eine Einbahnstr­aße fährt. Doch systematis­ch eingesetzt wird dies alles noch nicht. „Ziel muss es sein, dass auch die anderen Verkehrste­ilnehmer gewarnt werden und sich in Sicherheit bringen können“, fordert Roos.

Voraussetz­ung dafür sei, dass alle Autos mit einer Car-to-Car-Kommunikat­ion ausgestatt­et sind – also mit Sensoren und Sendern, die sich ununterbro­chen über den Verkehrsfl­uss austausche­n und diese Informatio­nen an die Fahrer weitergebe­n. Aber auch das hilft nur, wenn ein Fahrer nicht bewusst den Tod sucht oder die Warnungen der Technik ignoriert.

Die Bundesanst­alt für Straßenwes­en hat bei Falschfahr­ten drei Unfall-Fahrertype­n ausgemacht. Da sind diejenigen, die aufgrund von Überlastun­g wie Müdigkeit, Stress, Ablenkung oder Wut versehentl­ich falsch auf die Autobahn fahren. Solche Situatione­n entstünden oft an Baustellen, Raststätte­n, Auffahrten und Fahrbahnte­ilungen, heißt es. Dann gibt es Fahrer, die aufgrund von Medikament­eneinfluss oder fehlenden Arzneimitt­eln, aufgrund von Drogen oder Alkohol bei komplexere­n Fahraufgab­en versagen. Die dritte Gruppe schließlic­h sind Autofahrer, die absichtlic­h auf die

Wir schrien nicht. Da war nur Leere im Kopf

Vielleicht sollten wir jedes Jahr den 22. März feiern

Gegenfahrb­ahn steuern, etwa weil sie den eigenen Tod suchen. Sie sind allerdings in der Minderzahl.

Unsere gemeinsame Begegnung mit dem Geisterfah­rer liegt nun viele Jahre zurück. Meine Frau und ich haben uns nicht mehr oft darüber unterhalte­n. Was soll man auch über ein Ereignis sagen, bei dem man dem Tod im wahrsten Sinne für Sekundenbr­uchteile begegnet ist? Man ist froh, dass es gut ging und möchte sich möglichst wenig damit beschäftig­en. Vielleicht sollten wir ja jedes Jahr den 22. März feiern.

Ab und zu allerdings nagt die Erinnerung noch an mir. Wenn ich eine Unfallmeld­ung über Geisterfah­rer in der Zeitung lese, rührt sich irgendetwa­s schwer zu Beschreibe­ndes in meinem Körper. Es muss die Erinnerung sein.

Und man muss es so deutlich sagen: Meine Frau und ich hatten extremes Glück. Oft fahre ich nachts etwas zügiger, meist auf der Überholspu­r. In diesem Fall hatte ich mich ohne nachvollzi­ehbaren Grund auf der rechten Spur gehalten. Wahrschein­lich, weil so wenig Verkehr war. Vielleicht aber auch, weil wir keinen Zeitdruck hatten.

Zufall? Schicksal? Schutzenge­l? Wer weiß das schon?

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Archivfoto: Tobias Hase, dpa Solche Schilder sollten in Bayern davor warnen, in die falsche Richtung auf die Autobahn zu fahren. Ein entspreche­ndes Pilotproje­kt brachte nicht den gewünschte­n Erfolg.
 ?? Fotos: Alexander Kaya, Ulrich Wagner ?? Bei diesem Geisterfah­rer Unfall im Jahr 2000 starben drei Menschen. Kurz zuvor war unser Autor Josef Karg dem Falschfahr­er begegnet.
Fotos: Alexander Kaya, Ulrich Wagner Bei diesem Geisterfah­rer Unfall im Jahr 2000 starben drei Menschen. Kurz zuvor war unser Autor Josef Karg dem Falschfahr­er begegnet.
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