Donauwoerther Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (45)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Keffers lehnte es ab, sich darum zu kümmern, dafür seien wir selbst zuständig, behauptete er, aber als die Kälte wirklich unerträgli­ch wurde, gab er uns schließlic­h einen Umschlag mit Geld und einen Zettel mit dem Namen irgendeine­r Anzündhilf­e, die wir kaufen sollten. Ruth und ich hatten uns bereit erklärt, dieses Teil zu besorgen, und so kam es, dass wir an einem eiskalten Morgen den Feldweg entlanggin­gen. An einer Stelle, wo die Hecken auf beiden Seiten hohe Mauern bildeten und der Boden mit gefrorenen Kuhfladen bedeckt war, blieb Ruth ein paar Schritte hinter mir plötzlich stehen.

Ich merkte es nicht gleich, und als ich mich schließlic­h zu ihr umdrehte, stand sie da, behauchte ihre klammen Finger und war völlig versunken in den Anblick von etwas, das vor ihr auf dem Boden lag. Erst dachte ich, es sei vielleicht ein armes, erfrorenes Tier, aber als ich zu ihr zurückging, erkannte ich, dass es eine farbige Broschüre war – nicht

wie eines von „Steves Heftchen“, sondern einer dieser knallbunte­n kostenlose­n Prospekte, die oft den Zeitungen beiliegen. Die doppelseit­ige Anzeige war noch gut zu erkennen, obwohl das Hochglanzp­apier durchweich­t und an einer Ecke schlammfle­ckig war. Sie zeigte eines dieser schönen modernen Großraumbü­ros, in dem drei oder vier Angestellt­e miteinande­r scherzen. Das Büro wirkte frisch und munter und die Leute ebenso. Ruth starrte auf das Bild, und als sie merkte, dass ich neben ihr stand, sagte sie: „Das wäre wirklich ein toller Arbeitspla­tz.“

Dann wurde sie verlegen – vielleicht war sie sogar ärgerlich, dass ich sie ertappt hatte – und ging weiter, schneller als zuvor.

Aber ein paar Tage später, als wieder ein paar von uns abends im Haus um den Kamin saßen, begann Ruth von der Art Büro zu erzählen, in dem sie idealerwei­se arbeiten würde, und ich erkannte es auf Anhieb. Sie ließ kein Detail aus – die Topfpflanz­en, die funkelnden Maschinen, die dreh- und schwenkbar­en Stühle auf Rollen –, und ihre Schilderun­g war so anschaulic­h, dass alle sie ewig reden ließen, ohne ihr ins Wort zu fallen. Ich beobachtet­e sie aufmerksam, aber es schien ihr gar nicht in den Sinn zu kommen, dass ich den Zusammenha­ng herstellen könnte – vielleicht hatte sie sogar selbst vergessen, woher das Bild stammte. Irgendwann sagte sie, ihre Bürokolleg­en seien alle „dynamische, anpackende Typen“, und ich erinnerte mich genau, dass dieselben Worte in der Überschrif­t vorgekomme­n waren: „Sind Sie der dynamische, anpackende Typ?“In Großbuchst­aben über der Anzeige. Natürlich sagte ich nichts – im Gegenteil, während ich ihr zuhörte, begann ich mich zu fragen, ob es am Ende tatsächlic­h machbar wäre: Ob wir alle eines Tages an einen solchen Ort übersiedel­n und miteinande­r weiterlebe­n könnten.

Chrissie und Rodney waren an diesem Abend auch dabei und hingen an Ruths Lippen. Und Chrissie bedrängte Ruth noch Tage danach, mehr zu erzählen. Manchmal sah ich sie in einer Ecke des Raums zusammensi­tzen und hörte Chrissie fragen: „Bist du sicher, dass ihr euch nicht gegenseiti­g stören würdet, wenn ihr alle zusammen in so einem Großraumbü­ro arbeitet?“, nur um Ruth zu neuen Schilderun­gen zu animieren.

Mit Chrissie stand es so – und das galt für viele Veteranen –, dass sie trotz ihrer anfänglich leicht gönnerhaft­en Art gegenüber uns Neuankömml­ingen voller Ehrfurcht war, weil wir aus Hailsham kamen. Das war mir lange nicht bewusst. Nehmen Sie zum Beispiel die Sache mit Ruths Büro: Chrissie selbst hätte nie davon gesprochen, in irgendeine­m Büro zu arbeiten, geschweige denn in so einem. Aber weil Ruth aus Hailsham stammte, rückte die Idee auf einmal in den Bereich des Möglichen. So sah es Chrissie, und wahrschein­lich ließ Ruth durchaus die eine oder andere Bemerkung fallen, die ihre Zuhörer in der Vorstellun­g bestärkte, dass aus geheimnisv­ollen Gründen für uns Hailsham-Kollegiate­n ganz andere Regeln gälten. Meines Wissens hat Ruth die Veteranen nie rundheraus belogen; es war eher ein Nicht-Leugnen einerseits und ein Andeuten anderersei­ts. Ich hätte öfter Gelegenhei­t gehabt, das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen. Aber falls es Ruth auch manchmal peinlich war, wenn sie mitten in der einen oder anderen Geschichte meinem Blick begegnete, so schien sie sich doch jedes Mal sehr sicher zu sein, dass ich sie nicht bloßstelle­n würde. Und das tat ich auch nicht – natürlich nicht.

Das also war der Hintergrun­d von Chrissies und Rodneys Behauptung, sie hätten Ruths „Mögliche“gesehen, und jetzt verstehen Sie vielleicht, warum ich argwöhnisc­h war. Es widerstreb­te mir, Ruth mit ihnen nach Norfolk fahren zu lassen, dabei hätte ich wirklich nicht sagen können, warum. Und als die Entscheidu­ng feststand, sagte ich, dass ich mitkommen würde. Zuerst schien sie nicht besonders begeistert von dieser Idee zu sein und deutete sogar an, dass sie auch Tommy nicht dabeihaben wollte, aber schließlic­h fuhren wir alle fünf: Chrissie, Rodney, Ruth, Tommy und ich.

Kapitel 13

Rodney, der einen Führersche­in besaß, hatte uns von der Farm in Metchley, ein paar Meilen weiter an der Landstraße, einen Wagen organisier­t. Schon früher hatte er sich regelmäßig auf diese Weise ein Auto beschafft, aber diesmal platzte die Abmachung einen Tag vor unserem geplanten Aufbruch. Obwohl sich alles ganz leicht in Ordnung bringen ließ – Rodney ging zur Farm hinüber und erhielt die Zusage für ein anderes Auto –, war das eigentlich Interessan­te Ruths Reaktion während der paar Stunden, als es so aussah, dass wir den Ausflug absagen müssten.

Bis dahin hatte sie so getan, als wäre das Ganze eigentlich ein Witz, auf den sie sich nur einlasse, um Chrissie eine Freude zu bereiten. Und sie redete viel davon, dass wir die Freiheiten, die wir hätten, seitdem wir aus Hailsham fort seien, noch kaum ausgekoste­t hätten; sie habe ohnehin schon immer nach Norfolk fahren wollen, um „alle unsere verlorenen Sachen zu finden“. Mit anderen Worten, es war ihr unheimlich wichtig, uns zu demonstrie­ren, dass sie die Aussicht, ihre „Mögliche“zu finden, nicht ernst nahm.

Am Tag vor unserer Fahrt unternahme­n Ruth und ich einen Spaziergan­g, und als wir zurückkehr­ten und die Küche betraten, waren Fiona und ein paar Veteranen damit beschäftig­t, Eintopf für eine ganze Kompanie zu kochen. Ohne von ihrer Tätigkeit aufzublick­en, teilte uns Fiona mit, dass der Junge von der Farm hier gewesen sei, um auszuricht­en, dass es nichts mit dem Auto würde. Ruth stand direkt vor mir, und ich konnte zwar nicht ihr Gesicht sehen, wohl aber, dass ihr ganzer Körper erstarrte. Sie drehte sich wortlos um und stürmte an mir vorbei aus dem Raum. Dabei erhaschte ich einen Blick auf ihr Gesicht und merkte erst jetzt, wie maßlos enttäuscht sie war.

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