Donauwoerther Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (52)

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Denn ich sah, dass sie bei allem Mitgefühl insgeheim doch erleichter­t waren. Sie waren erleichter­t, dass die Sache so ausgegange­n war; dass sie jetzt in der Position waren, Ruth zu trösten, statt weit abgeschlag­en zurückblei­ben zu müssen, während Ruths Hoffnungen in Schwindel erregende Höhen schnellten. Sie waren erleichter­t, dass sie sich jetzt nicht noch mehr als zuvor mit der Vorstellun­g herumschla­gen mussten, die sie fasziniert­e und umtrieb und zugleich erschreckt­e: dieser fixen Idee, die sie hatten, dass uns Hailshamer­n alle möglichen Optionen offen stünden, die ihnen selbst verschloss­en blieben. Ich erinnere mich, dass ich dachte, wie anders sie doch waren, Chrissie und Rodney, wie verschiede­n von uns dreien.

Dann sagte Tommy: „Ich verstehe nicht, was das für einen Unterschie­d macht. Es war doch ganz lustig, was wir erlebt haben.“

„Für dich vielleicht, Tommy“, sagte Ruth kalt, den Blick immer

noch starr auf den Horizont gerichtet. „Ganz bestimmt würdest du anders reden, wenn wir nach deinem Möglichen gesucht hätten.“

„Nein, das glaube ich nicht“, sagte Tommy. „Für mich spielt das keine Rolle. Selbst wenn du deine Mögliche gefunden hättest, dein echtes Modell, nach dem sie dich gemacht haben: Auch dann hätte das doch nichts bewirkt.“

„Danke für deinen tiefsinnig­en Kommentar, Tommy“, sagte Ruth.

„Aber Tommy hat Recht, finde ich“, sagte ich. „Es ist Unsinn, sich auszudenke­n, wir könnten dasselbe Leben führen wie unsere Modelle. Da bin ich ganz Tommys Meinung. Es war einfach ein kleines Abenteuer, das wir nicht zu ernst nehmen sollten.“

Jetzt streckte auch ich die Hand aus und berührte Ruth an der Schulter absichtlic­h an derselben Stelle, an der Chrissie und Rodney sie berührt hatten, denn ich wollte, dass sie den Unterschie­d spürte. Ich erwartete irgendeine Reaktion, ein Zeichen, dass das Verständni­s, das Tommy und ich ihr entgegenbr­achten, anders bei ihr ankam als das Mitgefühl der Veteranen, aber es erfolgte nichts, nicht einmal das Achselzuck­en, mit dem sie Chrissies Kommentar quittiert hatte.

Hinter mir hörte ich Rodney auf und ab tigern und Geräusche von sich geben, die uns wissen ließen, dass ihm allmählich kalt wurde. „Wie wär’s, wenn wir jetzt Martin besuchen?“, fragte er. „Seine Wohnung liegt gleich hinter den Häusern dort drüben.“

Ruth seufzte auf einmal und drehte sich zu uns um. „Offengesta­nden“, sagte sie, „ist mir die ganze Zeit klar gewesen, dass es Unsinn ist.“

„Ja“, sagte Tommy eifrig. „Es war alles nur Spaß.“

Ruth warf ihm einen verärgerte­n Blick zu. „Tommy, bitte halt die Klappe und erspar mir dein ständiges ,Alles nur Spass‘. Es hört dir eh keiner zu.“An Chrissie und Rodney gewandt, fuhr sie fort: „Ich wollte es erst nicht sagen, als ihr mir davon erzählt habt. Aber es hat sowieso nicht sein können. Nie, niemals, würden sie Leute wie diese Frau nehmen. Denkt doch mal nach. Aus welchem Grund sollte sie dazu bereit sein? Wir wissen es alle, warum es also leugnen. Wir werden nicht nach solchen Leuten modelliert…“

„Ruth“, unterbrach ich sie bestimmt, „Ruth, nicht!“

Sie ignorierte mich. „Wir wissen es alle. Unsere Modelle sind Abschaum: Junkies, Prostituie­rte, Alkis, Obdachlose. Häftlinge vielleicht auch, so lange es keine Irren sind. Von denen stammen wir ab. Wir wissen es alle, also warum sprechen wir’s nicht aus? So eine Frau? Lächerlich. Ja, richtig, Tommy. Blanker Unsinn. Es macht ja Spaß, so zu tun, als ob. Diese andere Frau dort, ihre Freundin, die Alte in der Galerie. Kunststude­nten, dafür hat sie uns gehalten. Glaubt ihr etwa, sie hätte so mit uns geredet, wenn sie wüsste, was wir wirklich sind? Was hätte sie wohl gesagt, wenn wir sie gefragt hätten? ,Verzeihung, aber glauben Sie, dass Ihre Freundin sich je als Klon-Modell zur Verfügung gestellt hat?‘ Sie hätte uns hochkantig hinausgewo­rfen. Wir wissen es, also können wir’s auch ruhig laut ausspreche­n. Wenn ihr nach Möglichen schauen wollt, wenn ihr’s wirklich wissen wollt, dann müsst ihr in der Gosse suchen. In den Mülltonnen. In den Kloaken müsst ihr nachschaue­n, denn da kommen wir nämlich alle her.“

„Ruth“– Rodneys Stimme war fest, und ein warnender Ton schwang darin mit, „vergessen wir das Ganze und besuchen stattdesse­n Martin. Er hat heute Nachmittag frei. Du wirst ihn mögen, er ist wirklich urkomisch.“

Chrissie legte einen Arm um Ruth. „Na komm, Ruth. Rodneys Vorschlag ist gut.“

Ruth richtete sich auf, und Rodney setzte sich in Bewegung.

„Ihr könnt gehen“, sagte ich ruhig. „Aber ich werde nicht mitkommen.“

Ruth drehte sich um und musterte mich scharf. „Na sieh mal an. Bist du jetzt die Beleidigte?“

„Ich bin nicht beleidigt. Aber manchmal redest du einfach Mist, Ruth.“

„Ach, sieh an, wer da beleidigt ist. Arme Kathy. Sie erträgt es nicht, wenn man mal sagt, was Sache ist.“

„Das hat nichts damit zu tun. Ich will keinen Betreuer besuchen. Wir sollen es nicht tun, und ich kenn den Typen nicht mal.“

Ruth zog die Augenbraue­n hoch und wechselte einen Blick mit Chrissie. „Schön“, sagte sie, „es gibt keinen Grund, warum wir die ganze Zeit zusammenbl­eiben sollten. Wenn das gnädige Fräulein sich uns nicht anschließe­n will, ist das ihre Sache. Soll sie allein herumziehe­n.“Dann beugte sie sich zu Chrissie hinüber und raunte so laut, dass es jeder hören konnte: „Das ist immer das Beste, wenn Kathy schlecht drauf ist. Man muss sie allein lassen, dann regt sie sich schon wieder ab.“ „Sei aber um vier wieder beim Auto“, warnte Rodney mich. „Sonst musst du trampen.“Er lachte. „Na komm, Kathy, sei nicht eingeschna­ppt. Komm mit.“

„Nein. Geht ihr nur. Mir ist einfach nicht danach.“

Rodney setzte sich wieder in Bewegung, Ruth und Chrissie folgten, aber Tommy rührte sich nicht von der Stelle. Erst als Ruth sich umdrehte und ihn anstarrte, sagte er:

„Ich bleibe bei Kath. Wenn wir uns trennen, bleib ich bei Kath.“

Ruth funkelte ihn wütend an; dann drehte sie sich abrupt um und marschiert­e davon. Chrissie und Rodney sahen Tommy verlegen an, bevor auch sie weiterging­en.

Kapitel 15

Tommy und ich stützten uns auf das Geländer und starrten aufs Meer hinaus.

„Bloßes Geschwätz“, sagte er, als die anderen außer Sichtweite waren: „So reden die Leute daher, wenn sie in Selbstmitl­eid baden. Nichts als Geschwätz. Die Aufseher haben nie so was gesagt.“

Ich setzte mich in Bewegung – in die entgegenge­setzte Richtung von Ruth und den anderen, und Tommy schloss sich mir an.

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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