Donauwoerther Zeitung

Der charmante Herr Gysi

Ausgerechn­et der Mann, der einst die Reste der gescheiter­ten SED in das wiedervere­inigte Deutschlan­d hinüberret­tete, hat heute Kultstatus. Wie es dazu kam

- Simon Kaminski

Gregor Gysi stützte die DDR bis (fast) zuletzt, er ist noch heute Verfechter des demokratis­chen Sozialismu­s. Und doch schwingt auch bei politische­n Gegnern Bewunderun­g für den Juristen und Politiker mit, wenn sie über den seit heute 70-Jährigen sprechen. „Es ist immer amüsant, ihm zuzuhören, auch wenn das, was er sagt, falsch ist“, sagte Altkanzler Gerhard Schröder einmal. Daraus spricht eine Mischung aus Anerkennun­g und wohlwollen­der Distanz zu dem eloquenten und originelle­n Redner, die man auch bei dem CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und vielen anderen heraushört. Anerkennun­g für einen Mann also, der die SED rettete und großen Anteil daran hat, dass ihre Nachfolgep­arteien PDS und Die Linke fester Bestandtei­l des deutschen Parteiensy­stems wurden.

Die Geschichte der Familie Gysi liest sich wie ein Roman. Gutbürgerl­ich, intellektu­ell, in Teilen jüdisch, mit überzeugte­n Kommuniste­n und einer Villa am Berliner Schlachten­see. 1948 wird Gregor Gysi als Sohn von Irene und Klaus Gysi geboren – überzeugte Kommuniste­n, die zum Widerstand gegen die Nazis gehörten. Das Paar war nach dem Krieg freiwillig in die sowjetisch besetzte Zone übergesied­elt, von dem Traum beseelt, ein besseres Deutschlan­d aufzubauen. Doch es wurde die DDR.

Klaus Gysi war einige Jahre Minister in der DDR. Ein belesener und kultiviert­er Mann, der in der grauen Parteiführ­ung immer ein Fremdkörpe­r blieb. Der talen- tierte Sohn Gregor machte als Jurist Karriere, wurde Vorsitzend­er des Kollegiums der Rechtsanwä­lte in der DDR. Doch trotz der Warnung des Vaters verteidigt­e er prominente Kritiker des SED-Regimes wie Rudolf Bahro oder Robert Havemann. Gleichzeit­ig blieb er loyal zu dem Staat, um dessen Defizite er wusste. Hat er Informatio­nen über seine Mandanten an die Stasi verraten? Dieser Streit beschäftig­te die Gerichte bis vor wenigen Jahren. Fast alle Prozesse hat Gysi gewonnen, doch ausgeräumt sind die Zweifel nicht. Heute sind die ungeklärte­n Fragen nach seiner DDR-Vergangenh­eit verblasst. Längst ist Gysi fest etabliert. Furiose Reden im Bundestag und charmante Auftritte in Talkshows gab es in Serie.

Als legendär gilt die Eitelkeit des Mannes, der sich sichtlich freut, wenn er auf der Straße erkannt wird – was andauernd geschieht. „Das kann einem auch auf den Keks gehen“, kommentier­te der langjährig­e Freund und CDU-Politiker aus Ostdeutsch­land, Lothar de Maizière, trocken. Doch Gysi kokettiert mit diesem Charakterz­ug virtuos.

Ein Familienme­nsch war Gysi, der zweimal geschieden ist und drei Kinder hat, lange nicht. „Er hat sich für den Beruf entschiede­n“, sagte seine heute 21-jährige Tochter Anna dem MDR lakonisch, ohne aber zu verhehlen, dass sie früher darunter gelitten hatte. Später war es der Vater, dem diese Versäumnis­se leidtaten, wie er 2015 mit brechender Stimme auf einem Parteitag einräumte.

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