Donauwoerther Zeitung

Sie singt auch noch, wo andere bloß dirigieren

Die Sopranisti­n Barbara Hannigan ist eine Ausnahmeer­scheinung – gerade, wenn sie vor einem Orchester steht

- VON STEFAN DOSCH

München Wer unter den Sängerinne­n ist der größte Star der Klassik? Anna Netrebko natürlich. Jedenfalls, wo es um Verdi und Puccini geht. Bei Wagner aber schon nicht mehr. Und schon gar nicht, wo es um die Moderne geht, um die weiblichen Gesangspar­tien bei Alban Berg etwa oder gar um die Stimmakrob­atik der Avantgarde. Da hat die Szene sich einen anderen Star erkoren – Barbara Hannigan.

Seit einigen Jahren schon macht die Sopranisti­n weltweit von sich reden. So unangestre­ngt wie die 1971 geborene Kanadierin klettert derzeit keine andere durch die vokalen Steilgelän­de der zeitgenöss­ischen Musik. Mittlerwei­le schreiben Komponiste­n am Fließband Stücke für die Hannigan, die sich einen solchen Rang ersungen hat, dass sie allzu eifrige Tonschöpfe­r schon mal darauf hinweisen kann, „allzu dichte Notenvorhä­nge zu lichten“. Zur reinen Stimmkunst tritt bei Barbara Hannigan ein außergewöh­nliches darsteller­isches Vermögen – auf der Münchner Staatsoper­n-Bühne war es schon zweimal zu erleben, in Zimmermann­s „Soldaten“und in George Benjamins „Written on Skin“. Und natürlich kommt ihrer Bühnenpräs­enz ihr Äußeres zupass: gertenschl­ank und eine tief über den Rücken fallende Mähne in Dunkelblon­d mit Kupferton.

Reichliche Gaben also für einen Star der jüngeren Klassik – und doch scheint das Singen der Künstlerin nicht mehr ausschließ­lich zu genügen. Inzwischen tritt sie auch als Dirigentin in Erscheinun­g am Pult renommiert­er Orchester. Nun ist das Dirigieren zwar keine reine Männerdomä­ne mehr und musikalisc­he Doppelbega­bungen gibt es nicht wenige. Doch Barbara Hannigan darf auch hier einen Sonderstat­us beanspruch­en: Sie singt und dirigiert – im selben Moment.

Sonntagabe­nd im Münchner Gasteig: Auf dem Programm der Münchner Philharmon­iker steht „Luonnotar“für Sopran und Orchester von Jean Sibelius. Barbara Hannigan steht am Dirigenten­pult, hebt die unverhüllt­en Arme und gibt mit weich fließenden Bewegungen den Einsatz fürs Orchester. Nach ein paar Takten eine elegante Halbdrehun­g der Frau auf dem Podest, und Barbara Hannigan steht nun Aug’ in Aug’ mit dem Publikum, holt Atem und singt auf Finnisch „Einst webte hoch in höchster Höhe…“Wie immer schlank und silbern die Stimme, dazu weiterhin diese elfenhafte­n Bewegungen mit Armen und Händen – Zeichen für die Orchesterm­usiker oder bloß gestischer Ausdruck des vokalen Vortrags? Wohl beides. Während eines Orchester-Zwischensp­iels wendet sie sich wieder dem Klangkörpe­r zu, und zwei kurze Rufe, die Sibelius dem Sopran hier hineinkomp­oniert hat, singt sie sogar in Richtung Orchester. Verblüffun­g im Auditorium: So etwas hört, sieht man nicht alle Tage.

Hannigan kann auch ganz klassisch, Haydn zum Beispiel, an diesem Abend die Sinfonie Nr. 96. Und doch ist bei ihr so vieles anders. Wieder dieses Fließen der Arme, ein Dirigierst­ab wird nicht gebraucht, dafür ist sie in den Knien und Hüften beweglich wie keiner ihrer Pultkolleg­en, tief geht es bei leisen Stellen hinunter und bei plötzliche­m Forte kraftvoll wieder empor. Die plastische Körperspra­che funktionie­rt, die Philharmon­iker nehmen sich zurück, legen anderswo noch drauf, und im kollektive­n Ergebnis erklingt ein elastische­r Haydn, nie dicklich oder schleppend trotz vielköpfig­er Orchesterb­esetzung.

Und die Hannigan setzt noch einen drauf, am Ende des Konzerts, mit Gershwin. Wieder ist da zunächst die Dirigentin, die sich mit den Philharmon­ikern „Girl Crazy“vornimmt, eine Suite mit Songs des gleichnami­gen Musicals. Das Arrangemen­t, in dem Gershwin hier erklingt, ist neu und hörbar der Klangsprac­he der Zweiten Wiener Schule angenähert – auf die zeitliche Parallelit­ät des musikalisc­h scheinbar Gegensätzl­ichen, darauf kommt es Hannigan an. Die europäisch­e Traditions­linie mit ihrer Zuspitzung bei Schönberg (dessen „Verklärte Nacht“sie in München ebenfalls dirigiert) ist ihr ebenso wichtig wie die andere Entwicklun­g jenseits des Ozeans mit Gershwin an der Spitze. Man kann es sehen bei dieser Frau auf dem Podest, wie sie bei Songs wie „But not for Me“oder „Embraceabl­e You“noch mehr als sonst aus sich herausgeht als Dirigentin und Sängerin. Schlicht grandios gerät „I got Rhythm“, wo sich die Stimme nicht nur in aberwitzig­e Höhe aufschwing­t, sondern das Showtalent einen kurzen Moment über die dirigieren­de Künstlerin siegt – die zum Finalakkor­d hochgereck­t dasteht wie die Freiheitss­tatue persönlich.

Es besitzt durchaus Symbolkraf­t, wenn bei „Embraceabl­e You“die Herren im Orchester plötzlich im Chor zu singen anheben. Der derzeit vielleicht aufregends­te Act der Klassik, diesen Schluss lässt auch der tosende Applaus zu – ist weiblich.

OZum Weiterhöre­n „Crazy Girl Crazy“. Werke von Gershwin, Berg (Lyrische Suite), Berio (Sequenza). Barbara Hanni gan, Ludwig Orchestra. (Alpha/Note 1)

 ?? Foto: Musacchio & Ianniello/BH ?? Singend, dirigieren­d: Barbara Hannigan in ihrem Element.
Foto: Musacchio & Ianniello/BH Singend, dirigieren­d: Barbara Hannigan in ihrem Element.

Newspapers in German

Newspapers from Germany