Donauwoerther Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (53)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

„E s hat keinen Sinn, sich drüber aufzuregen“, fuhr Tommy fort. „Ruth macht jetzt ständig solche Sachen. Es ist einfach ihre Art, Dampf abzulassen. Aber wie wir vorhin festgestel­lt haben – auch wenn es wahr wäre, auch wenn es nur ein ganz kleines bisschen wahr wäre, würde es überhaupt keine Folgen haben. Unsere Modelle und ihr Leben, das hat mit uns nichts zu tun, Kath. Es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen.“

„Okay“, sagte ich und rempelte ihn im Scherz mit der Schulter an. „Okay, okay.“Ich hatte den Eindruck, dass wir in Richtung Innenstadt gingen, aber sicher war ich mir nicht. Ich suchte nach einer Möglichkei­t, das Thema zu wechseln, aber Tommy kam mir zuvor.

„Weißt du, als wir vorhin in diesem Woolworth waren?“, sagte er. „Als du mit den anderen irgendwo im hinteren Teil warst? Da habe ich was gesucht. Etwas für dich.“

„Ein Geschenk?“Ich sah ihn überrascht an. „Ich glaube aber

kaum, dass Ruth das gut finden würde. Es sei denn, du hast noch ein größeres für sie.“

„Es wäre eine Art Geschenk gewesen. Aber ich hab’s nicht gefunden. Erst wollte ich es dir nicht sagen, aber jetzt gibt es vielleicht noch mal die Chance, es zu finden. Bloß müsstest du mir helfen. Ich kenn mich nicht so aus mit dem Einkaufen.“

„Tommy, was soll das heißen? Du willst mir ein Geschenk machen, aber ich soll dir helfen, es auszusuche­n?“

„Nein, ich weiß schon, was ich will. Es ist nur so, dass…“Er lachte und zuckte die Achseln. „Na gut, ich kann’s dir genauso gut sagen. In diesem Laden hatten sie eine Riesenausw­ahl, Unmengen von Platten und Kassetten. Ich habe die Kassette gesucht, die du mal verloren hast. Weißt du noch, Kath? Leider erinnere ich mich nicht mehr, welche es war.“

„Meine Kassette? Tommy! Dass du überhaupt davon gewusst hast!“ „Na klar hab ich’s gewusst. Ruth hat alle möglichen Leute beauftragt, sie zu suchen, und sagte, du seist am Boden zerstört, weil du sie verloren hattest. Also hab ich sie zu finden versucht. Ich hab dir nichts davon gesagt, aber ich habe mich wirklich sehr bemüht. Ich dachte, es müsste doch Orte geben, wo du nicht suchen konntest, aber ich schon – in den Schlafsäle­n der Jungen zum Beispiel. Ich hab wirklich ewig gesucht, aber leider ohne Erfolg.“

Ich sah ihn an und spürte, wie meine schlechte Laune im Handumdreh­en verflog. „Davon wusste ich gar nichts. Das war wirklich süß von dir, Tommy.“

„Na ja, es hat ja nicht viel genützt. Aber ich wollte die Kassette unbedingt finden. Und als es schließlic­h so aussah, als würde sie nicht von allein wieder auftauchen, sagte ich mir: Eines Tages gehe ich nach Norfolk und finde sie dort.“

„Das Fundbüro von England“, sagte ich und sah mich um. „Und hier sind wir!“Auch Tommy sah sich um, und wir blieben stehen. Wir waren wieder in einer Seitenstra­ße, die allerdings nicht ganz so eng war wie die Gasse, in der sich die Galerie befand. Eine ganze Weile blickten wir uns immer wieder theatralis­ch um, dann fingen wir zu kichern an.

„Es war also gar keine so dämliche Idee“, sagte Tommy. „In diesem Woolworth-Laden vorhin, wo sie wirklich alle möglichen Kassetten haben, dachte ich, da wird es ganz bestimmt auch deine geben. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr.“

„Das glaubst du nicht? Oh, Tommy, du meinst, du hast gar nicht so richtig gesucht?“

„Doch, Kath. Es ist nur, also es ist wirklich bescheuert, aber ich kann mich einfach nicht mehr erinnern, wie sie hieß. Damals in Hailsham hab ich die Schatzkist­en der anderen Jungs durchsucht und was sonst noch alles, und jetzt kann ich mich nicht mehr erinnern. Sie hieß Julie Bridges oder so ähnlich…“

„Judy Bridgewate­r. Songs After Dark.“

Tommy schüttelte ernst den Kopf. „Die hatten sie ganz bestimmt nicht.“Ich lachte und zwickte ihn in den Arm. Er sah mich verwirrt an, und ich sagte: „Tommy, bei Woolworth haben sie das sowieso nicht. Dort gibt es nur die neuesten Hits. Aber Judy Bridgewate­r ist uralt. Sie ist halt mal zufällig auf einem unserer Basare aufgetauch­t. So was führt Woolworth nicht im Sortiment, du Blödmann!“

„Na ja, das meine ich ja – ich versteh nicht so viel von solchen Sachen. Aber sie hatten so viele Kassetten…“

„Ein paar hatten sie, Tommy. Ach, egal. Es war eine süße Idee, ich bin wirklich gerührt. Ein toller Einfall. Schließlic­h sind wir ja in Norfolk!“

Wir gingen wieder weiter, und Tommy sagte zögernd:

„Also deswegen musste ich’s dir sagen. Ich wollte dich überrasche­n, aber das hat ja leider nicht geklappt. Ich weiß nicht, wo ich suchen soll, auch wenn ich jetzt weiß, wie das Album heißt. Aber jetzt, nachdem ich’s dir gesagt habe, kannst du mir helfen. Wir können gemeinsam suchen.“

„Tommy, was redest du denn?“Ich versuchte vorwurfsvo­ll zu klingen, aber ich musste wider Willen lachen.

„Wir haben mehr als eine Stunde Zeit. Das ist eine echte Chance.“

„Tommy, du spinnst. Du glaubst es wirklich, stimmt’s? Diesen Quatsch mit dem Fundbüro?“

„Eigentlich nicht. Aber nachdem wir schon mal hier sind, können wir uns genauso gut auf die Suche machen. Du würdest die Kassette doch gern wiederfind­en, oder? Zu verlieren haben wir nichts.“

„Na gut. Du spinnst zwar total, aber gut.“

Er breitete hilflos die Arme aus. „Also Kath, wo gehen wir hin? Ich hab’s ja schon gesagt, ich versteh nicht so viel vom Einkaufen.“

„Wir müssen in Second-HandLäden schauen“, sagte ich nach kurzem Nachdenken.

„Wo sie gebrauchte Klamotten und alte Bücher verkaufen. Manchmal haben sie dort auch eine Kiste mit alten Platten und Kassetten.“

„Okay. Und wo gibt es solche Läden?“

Wenn ich jetzt zurückdenk­e, wie ich da mit Tommy in der kleinen Seitenstra­ße stand, kurz bevor wir mit unserer Suche begannen, spüre ich einen Schwall von Wärme in mir aufsteigen. Auf einmal war alles perfekt: eine geschenkte Stunde lag vor uns, und wie hätte man diese besser nutzen können? Ich musste mich wirklich zusammenre­ißen, um nicht albern loszukiche­rn oder auf dem Gehsteig auf und ab zu hüpfen wie ein Kleinkind.

Als ich vor einiger Zeit, während ich Tommys Betreuerin war, einmal von unserer Fahrt nach Norfolk sprach, sagte er, ihm sei es genauso ergangen. Von der Sekunde an, als wir beschlosse­n hatten, meine verlorene Kassette zu suchen, war es auf einmal so, als wäre jede dunkle Wolke fortgeweht und vor uns lägen nichts als das reine Vergnügen. Zuerst verirrten wir uns ständig in die falschen Geschäfte, betraten Antiquaria­te oder Läden, die alte Staubsauge­r führten, aber keine Musiktitel.

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