Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (56)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schade
Wahrscheinlich sind es Leute über ihr, Leute, die nie einen Fuß nach Hailsham gesetzt haben. Ich habe viel darüber nachgedacht, Kath. Es passt alles. Deswegen war die Galerie so wichtig, und deswegen war den Aufsehern so wichtig, dass wir malten und dichteten. Kath, was denkst du?“
Tatsächlich waren meine Gedanken ein wenig abgeschweift. Ich dachte an jenen Nachmittag, an dem ich allein in unserem Schlafraum gewesen und meine Kassette gehört hatte; wie ich mich gewiegt hatte, ein Kissen an die Brust gedrückt, und Madame mich mit Tränen in den Augen von der Türschwelle aus beobachtet hatte. Selbst dieser Zwischenfall, für den ich nie eine plausible Erklärung gefunden hatte, schien in Tommys Theorie zu passen. Dass ich in meiner Phantasie ein Baby in den Armen hielt, konnte Madame natürlich unmöglich wissen. Wahrscheinlich dachte sie, ich umarmte meinen Liebsten. Wenn Tommys Theorie stimmte, wenn
Madame nur zu dem einen Zweck mit uns zu tun gehabt hatte, später, wenn wir uns verliebten, einen Aufschub für uns zu erwirken, dann war es vorstellbar, dass sie, die doch sonst so kühl und reserviert uns gegenüber war, von einer solchen Szene, deren Zeugin sie zufällig geworden war, derart erschüttert wurde. Das alles schoss mir durch den Kopf, und ich war nahe daran, Tommy meine Überlegungen mitzuteilen. Aber ich hielt mich zurück, weil ich seine Theorie jetzt lieber entkräften wollte statt sie zu bestätigen.
„Ich hab nur über das alles nachgedacht, weiter nichts“, sagte ich. „Wir sollten allmählich an den Rückweg denken. Es wird eine Weile dauern, bis wir den Parkplatz wiedergefunden haben.“
Wir machten kehrt und gingen den Hügel wieder hinunter, aber wir wussten, dass wir noch Zeit hatten, und beeilten uns nicht besonders.
„Tommy“, fragte ich, nachdem wir eine Zeit lang stumm nebenei- nanderher getrottet waren, „hast du irgendwas davon auch zu Ruth gesagt?“
Er schüttelte den Kopf und sagte: „Die Sache ist die, dass Ruth alles glaubt, alles, was die Veteranen sagen. Okay, sie tut gern so, als wüsste sie viel mehr, als sie tatsächlich weiß. Aber sie glaubt es wirklich. Und früher oder später wird sie einen Schritt weiter gehen wollen.“„Du meinst, sie wird…“
„Ja. Sie wird sich bewerben wollen. Aber sie hat es noch nicht bis zum Ende durchdacht. Nicht so wie wir jetzt.“
„Du hast ihr nie deine Theorie über die Galerie auseinandergesetzt?“
Wieder schüttelte er stumm den Kopf.
„Wenn du das tust“, sagte ich, „und sie kauft sie dir ab… Ich fürchte, sie wird sehr wütend werden.“
Tommy wirkte nachdenklich, aber er sagte noch immer nichts. Erst als wir unten in den engen Gassen angelangt waren, brach er sein Schweigen, und dann war sein Tonfall auf einmal verlegen.
„Um ehrlich zu sein, Kath“, begann er, „ich habe schon etwas unternommen. Nur für den Fall. Ich hab niemandem etwas verraten, auch Ruth nicht. Es ist erst ein Anfang.“
So erfuhr ich zum ersten Mal von seinen Phantasietieren. Als er anfing, sie mir zu beschreiben – zu sehen bekam ich sie erst ein paar Wochen später –, fiel es mir schwer, Begeisterung zu zeigen. Tatsächlich fühlte ich mich, wie ich gestehen muss, an das Bild des Elefanten im Gras erinnert, mit dem für Tommy alle Probleme in Hailsham begonnen hatten.
Auf die Idee, erklärte er, habe ihn ein altes Kinderbuch gebracht, dem der hintere Deckel fehlte; er hatte es in den Cottages hinter einem Sofa gefunden. Dann hatte er Keffers überredet, ihm eines der kleinen schwarzen Notizhefte zu überlassen, in die er seine Zahlen zu schreiben pflegte, und seither hatte Tommy mindestens ein Dutzend solcher Phantasiewesen fertig gestellt.
„Die Sache ist die, dass ich sie ganz klein mache. Winzig. Darauf bin ich in Hailsham nie gekommen. Heute denke ich, das war vielleicht der Fehler. Wenn man sie ganz winzig malt, weil einem ja gar nichts anderes übrig bleibt, denn die Seiten sind eben nur so und so groß, dann wird alles ganz anders. Es ist, als würden sie von selber lebendig. Dann musst du ihnen die ganzen Details einzeichnen. Du musst dir überlegen, wie sie sich vor Feinden schützen, wie sie etwas zu fassen kriegen.
Ehrlich, Kath, es ist ganz anders als alles, was ich je in Hailsham gemalt habe.“
Er begann seine Lieblinge zu beschreiben, aber ich konnte mich nicht recht konzentrieren; je begeisterter er mir seine Tiere beschrieb, desto unbehaglicher wurde mir zumute, und ich hätte gern gesagt: Tommy, du wirst dich wieder zum Gespött machen. Phantasietiere? Was ist bloß los mit dir? Aber stattdessen sah ich ihn nur vorsichtig an und kommentierte mehrmals: „Hört sich wirklich gut an, Tommy.“
Abschließend sagte er: „Ehrlich, Kath, Ruth weiß nichts davon.“Und damit schien ihm auch alles andere wieder einzufallen, auch der Grund, weshalb wir überhaupt auf seine Tiere zu sprechen gekommen waren, und mit einem Schlag war alle Lebhaftigkeit aus seiner Miene verschwunden. Wir gingen wieder schweigend dahin, und als wir zur Hauptstraße kamen, sagte ich:
„Also wenn an deiner Theorie etwas dran ist, Tommy, dann müssen wir noch eine ganze Menge mehr herausfinden. Zum Beispiel: Wie läuft so eine Bewerbung, was muss ein Paar tun, das einen Antrag stellen will? Schließlich liegen ja keine Formulare aus.“
„Das hab ich mich auch schon alles gefragt.“Seine Stimme klang wieder leise und ernst. „Soweit ich sehe, gibt es nur einen Erfolg versprechenden Weg, und der besteht darin, Madame zu finden.“
Ich dachte eine Weile darüber nach. „Das dürfte nicht so leicht sein. Wir wissen doch gar nichts über sie. Nicht mal, wie sie heißt. Und erinnere dich mal, wie sie war. Sie wollte uns ja nicht mal in ihre Nähe lassen. Und selbst wenn wir sie ausfindig machen, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie besonders entgegenkommend wäre.“
Tommy seufzte. „Ich weiß“, sagte er. „Na ja, wir haben wohl noch Zeit. Keiner von uns hat es besonders eilig.“
Als wir zum Parkplatz zurückkehrten, hatte der Himmel sich zugezogen, und es wurde allmählich recht kalt. Von den anderen war noch keine Spur zu sehen. Tommy und ich lehnten uns an das Auto und schauten zum Minigolfplatz hinüber. Dort war kein Mensch, nur die Fahnen flatterten im Wind. Ich wollte nicht mehr über Madame und die Galerie reden; daher nahm ich die Judy-Bridgewater-Kassette aus der kleinen Tüte und betrachtete sie von allen Seiten.
„Danke für dein Geschenk“, sagte ich. Tommy lächelte. „Wenn ich bei der Schachtel mit den Kassetten gestanden hätte und du bei den LPs, hätte ich sie gefunden.