GroKo? Was ist das?
In der Schule spielt aktuelle Politik oft kaum eine Rolle. Wer sich nur im Unterricht informiert, bleibt weitgehend ahnungslos. Sozialwissenschaftler Reinhold Hedtke warnt: „Das ist riskant“
Herr Hedtke, nehmen wir an, ein Schüler interessiert sich nicht sonderlich für die aktuelle Politik und bekommt nur das mit, was ihm in der Schule vermittelt wird. Ist er dann ausreichend informiert?
Reinhold Hedtke: In einer ganzen Reihe von Bundesländern wird die politische Bildung stark vernachlässigt. Das ist riskant. Denn was auf dem Stundenplan steht, demonstriert Kindern und Jugendlichen, was man für wichtig hält, woraus die Bildung für das Leben besteht. In grob zwei Dritteln der Länder ist die politische Bildung an den Schulen deutlich unterrepräsentiert. In Bayern ganz besonders.
Und wo wird es besser gemacht? Hedtke: Wir haben einige Länder, die vergleichsweise hohe Anteile für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geben. Schleswig-Holstein zum Beispiel, Nordrhein-Westfalen und Hessen. Das hängt übrigens nicht davon ab, welche politische Koalition gerade an der Macht ist. In Hessen gilt das im Prinzip seit den 70er Jahren.
Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz zwischen den Ländern?
Hedtke: Das eine Land pflegt eine eher konservative Vorstellung von Bildung, das andere eine modernere. Man kann feststellen, dass die starke Betonung von Geschichte und die Abwertung von Gegenwart und Zukunft ein tendenziell konservatives Verständnis von Bildungspolitik in den betreffenden Ländern beschreibt.
Wie messen Sie die Unterschiede in Ihrer Studie?
Hedtke: Als Indikator haben wir die Stundentafeln der Jahrgangsstufen fünf bis zehn an Gymnasien und anderen Schulformen der Sekundarstufe I untersucht – in Bayern Realschulen. Wir haben ausgerechnet, wie viel Prozent der Gesamtstunden auf das Fach entfallen, in dem politische Bildung stattfindet. Damit hatten wir einen Vergleichsmaßstab zwischen den Bundesländern.
In Bayern gibt es vier sogenannte Leitfächer, in denen politische Bildung vermittelt wird: allen voran Sozialkunde, aber auch Geschichte, Geografie sowie Wirtschaft und Recht. Haben Sie all diese Fächer einbezogen oder nur eins?
Hedtke: Wir haben uns nur die Stundentafel für Sozialkunde angesehen. Aber dass politische Bildung nicht nur in einem Fach stattfindet, das dann Politik oder Sozialkunde heißt, ist in anderen Bundesländern im Prinzip genauso. Fest steht, dass es kaum ein anderes Bundesland gibt, das so wenig Zeit für Sozialkunde als das besonders ausgewiesene Leitfach für politische Bildung zur Verfügung stellt. Man muss auch berücksichtigen, dass etwa Geografieund Geschichtslehrer meist weder Politik, noch Soziologie oder Wirtschaftswissenschaften studiert haben. Ich will das nicht abwerten, aber dies ist nicht der Kern ihrer Professionalität. Und wenn ich mir die Geschichts- und Geografielehrpläne in Bayern ansehe, dann sind sie so voll mit Fachinhalten, dass ich mir nicht vorstellen kann, wo da noch Zeit für politische Diskussionen bleiben soll.
Bleibt bei allem Stoff, den Lehrer gerade am Gymnasium durchbringen müssen, generell Platz für aktuelle politische Geschehnisse? Hedtke: Ein vollgepackter Lehrplan ist eher kontraproduktiv für das politische Bewusstsein der Schüler und für ihre Bereitschaft, sich gesellschaftlich zu engagieren. Denn wenn die Zeit nicht reicht, werden im Zweifel die aktuellen Themen ausgespart. Dabei ist wissenschaftlich belegt, dass es insbesondere die offene Diskussion im Klassenzimmer ist, die das politische Interesse der Schüler fördert. Der Stoff ist die Voraussetzung, aber das zündende Moment liegt darin, dass die jungen Bürger lernen, ihre politische Position zu entwickeln, zu verteidigen und an Diskussionen teilnehmen.
Wenn die aktuellen Themen ausgespart werden: Kann es etwa sein, dass die Verhandlungen zur GroKo oder der Aufstieg der AfD an Schülern komplett vorbeigehen, sofern sie sich nur in der Schule fortbilden?
Hedtke: Da bin ich sicher. Man muss jedoch in der Schule nicht jedes Thema diskutieren, aber sehr wohl diejenigen, die über den Tag hinaus Bedeutung haben.
Was sind für Sie solche Themen? Hedtke: Zum einen das Verhältnis von Wirtschaft und Politik. Haben wir noch demokratische Gestaltungsmacht über die Wirtschaft oder ist die Politik der Wirtschaft ausgeliefert? Das ist ein zentraler Themenkomplex. Der zweite: Wie wollen wir in Europa zusammenleben? Dieses Thema wird uns über viele Jahre hinaus weiter beschäftigen. Der wichtigste Punkt aber ist die Gesellschaft.
Können Sie erklären, weshalb? Hedtke: Wir erleben Desintegrationstendenzen in vielerlei Hinsicht. Vielen fällt es schwer, mit der Pluralität der Lebensentwürfe und der Normen umzugehen. Wir müssen hart daran arbeiten, die Gesellschaft zusammenzuhalten. An den Schulen wird dieses derzeit wohl komplexeste Thema oft auf Regeln reduziert, etwa, dass man fair miteinander umgehen soll.
Guter Unterricht steht und fällt mit dem Lehrer. Folglich spielt er auch eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung politischer Bildung. Wie schätzen Sie seinen Einfluss ein? Hedtke: Ein engagierter Lehrer, der eine Persönlichkeit ist und die Schüler mitreißt, kann natürlich viel ausgleichen. Die Frage ist aber – wie gesagt –, ob jemand tatsächlich vom Fach ist. Die Gefahr besteht, dass der Lehrer denkt, er sei ein politisch informierter Mensch und könne deshalb politische Inhalte fachlich gut vermitteln. Das ist meistens
„Wir müssen hart daran arbeiten, die Gesellschaft zusammenzuhalten.“Reinhold Hedtke
schlichtweg falsch. Man muss für politische Bildung genauso gut wissenschaftlich ausgebildet sein wie für Chemieunterricht. Da reicht es ja auch nicht, dass man eine Waschmaschine im Keller hat.
Was muss sich also ändern?
Hedtke: Die Bundesländer müssen eine gemeinsame Vorstellung von der Wichtigkeit politisch-gesellschaftlicher Bildung entwickeln. Dafür müssen sie ja nicht gleich ihre Ländersouveränität aufgeben. Aber sie müssen politische Bildung angemessen in den Stundentafeln verankern. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen.
Sind Sie trotzdem zuversichtlich, dass Kinder und Jugendliche von heute politisch mündige Bürger werden können? Hedtke: Ja, da bin ich ganz zuversichtlich. Die Schüler erarbeiten sich viele Dinge auch selbst. Aber eine Gesellschaft kann sich eben nicht darauf verlassen.
OReinhold Hedtke, 64, ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften und Wirtschaftssoziologie an der Universi tät Bielefeld. Er gibt das Journal of Social Science Education heraus, ein internationa les Magazin zur Ver mittlung gesell schaftswissenschaft licher Bildung.