Donauwoerther Zeitung

Wenn nachsitzen nicht mehr ausreicht

Sie stören den Unterricht, haben viele Fehlzeiten und Verweise beeindruck­en sie nicht: Widerspens­tige Schüler sind meist für die ganze Klasse ein Problem. Was schulmüden Kindern helfen kann

- VON SVEN KOUKAL

Augsburg Selina hat die Schule satt. Statt sich auf die Mathematik­aufgaben zu konzentrie­ren, wirft sie Papierküge­lchen auf die Tafel. Statt dem Lehrer zuzuhören, boxt sie ihren Banknachba­rn auf die Schulter. Die Zwölfjähri­ge gehört zu den Kindern, die in der Schule einfach nicht zurechtkom­men. Innerhalb weniger Wochen droht ihr nun der zweite Verweis. Sie beeinträch­tigt nicht nur ihre Leistung, sondern auch die ihrer ganzen Klasse. Zwar handelt es sich bei Selinas Fall um ein fiktives Beispiel, dennoch kommen Szenen wie die geschilder­ten täglich vor in Bayerns Schulen.

Wie geht es mit solch schwierige­n Schülern weiter, wenn sie ihr Verhalten nicht ändern? Kein Rektor kann einen schwierige­n Schüler einfach so von der Schule schmeißen. In Bayern gilt wie in ganz Deutschlan­d die Schulpflic­ht. Im Freistaat beträgt sie zwölf Jahre. Wer regelmäßig den Unterricht stört oder keinen Respekt gegenüber anderen zeigt, bekommt es zunächst mit dem Fach- oder Klassenleh­rer zu tun: Sie lassen nachsitzen, ermahnen oder bestellen die Eltern zum Gespräch ein. Jeder Fall werde individuel­l pädagogisc­h abgewogen, erklärt Elena Schedlbaue­r, Sprecherin des bayerische­n Kultusmini­steriums.

Hilft all das nicht, kommt Artikel 86 des Schulgeset­zes ins Spiel. Die dort aufgeführt­en sogenannte­n Ordnungsma­ßnahmen reichen vom schriftlic­hen Verweis, über die Versetzung in eine Parallelkl­asse, vorübergeh­enden Ausschluss vom Unterricht bis hin zu einer Entlassung von der Schule oder in extremen Fällen gar zum Ausschluss von allen Schulen einer Schulart.

Gerade Verweise sind im Schulallta­g keine Seltenheit. Problemati­sch wird deren Einsatz, wenn sie beim Adressaten nichts an seinem Verhalten ändern – wie bei Selina. Das bestätigt auch Petra Seibert, Vorsitzend­e des Bayerische­n Schulleitu­ngsverband­s (BSV). „Werden Verweise inflationä­r ausgesproc­hen, nehmen die Schüler die Androhung einer Strafe nicht mehr ernst. Der Verweis verliert so an Wirkung“, sagt sie. Sie plädiert dafür, dass ein Fehlverhal­ten auch ernst zu nehmende Konsequenz­en nach sich ziehen muss.

Um Kinder frühzeitig zu unterstütz­en, fordert die BSV-Chefin mehr Personal, das psychologi­sch berät. Auch den Einsatz eines mobilen sonderpäda­gogischen Dienstes, der Schüler auf emotionale­s Handeln hin überprüft, würde sie begrüßen. „Wir brauchen gut ausge- bildete Lehrerpers­önlichkeit­en statt neuer Investitio­nen in digitale Bildung“, sagt sie. Eine Lösung seien Heime und Internate mit speziell geschultem Personal, doch diese seien in Bayern Mangelware.

Selina wäre wohl die richtige Kandidatin für das Projekt FliBB: Die St. Gregor Kinder-, Jugendund Familienhi­lfe in Augsburg kümmert sich in Kooperatio­n mit Schulen um genau solche Schicksale. FliBB steht für Flexible, individuel­le Betreuung und Beschulung schulmüder oder nicht mehr beschulbar­er Kinder und Jugendlich­er. „Es ist kein Stigma mehr, sich Hilfe zu holen“, sagt Beate Sigl, die das Projekt leitet. „Es ist leichter und selbstvers­tändlicher geworden, sich anderen anzuvertra­uen“, sagt sie.

Im Gespräch mit dem Amt für Ju- gend und Familie, dem Schulamt, der Schule, Eltern, aber auch Ärzten sollen die Schüler ihr eigenes Verhalten und dessen Folgen reflektier­en. „Wir bieten ihnen und ihren Familien intensive schulbegle­itende Unterstütz­ung an“, erklärt die Projektlei­terin. Viele der Betroffene­n können oder wollen aus unterschie­dlichsten Gründen ihre Chance auf Bildung nicht wahrnehmen. „Aus ihrer Not heraus zeigen sie dann auffällige­s Verhalten. Wir erleben Geschichte­n, die sich über Jahre hinweg entwickelt haben“, erklärt Sigl.

Selina würde im Projekt lernen, was es heißt, sich richtig zu verhalten, gerade im Umgang mit anderen. Auch ihre Eltern würden unterstütz­t werden, damit sie ihre Erziehungs­kompetenz wiedererla­ngen. „Manchmal ist ein Einschnitt durch ein offenes, klärendes Gespräch sehr hilfreich, um die Situation zu erkennen“, weiß Sigl. Mehrfach in der Woche arbeitet zudem eine Fachkraft vor Ort mit dem Schüler und auch den Eltern, ein Mal im Monat gibt es ein Auswertung­sgespräch.

Das Ziel sei es, dem Kind oder Jugendlich­en eine Schullaufb­ahn mit angemessen­em Abschluss zu ermögliche­n. Um das zu schaffen, müssen Schüler sich wieder wohlfühlen in der Schule, in der Klasse, im Unterricht. Das bestätigen Raphael Bischof und Thomas Breimeir, die bei St. Gregor das Projekt SchulFiT betreuen. Das bedeutet Flexibles Lernen im Team, während und in der Schule, zu Hause und im Projekt. Sie bieten in einem eigenen Gebäude Raum für die Schüler, um nach dem Unterricht in kleinen Gruppen gemeinsam deren Interessen nachzugehe­n. Die Kinder und Jugendlich­en machen unter Aufsicht der Lehrkräfte Ausflüge in die Natur, bewirtscha­ften zusammen einen Acker, kochen unter anderem gemeinsam. Andere reparieren Räder, basteln oder malen Wandbilder.

„Es geht darum, Leidenscha­ft bei den Kindern zu entfachen. Wir geben ihnen Rückhalt, stärken ihren Selbstwert“, erklärt Bischof, der das Projekt leitet. Thomas Breimeir ist Lehrer an einer Augsburger Mittelschu­le und gehört ebenfalls zum Team. Er fügt hinzu: „Das Zugehörigk­eitsgefühl zu einer Klasse ist wichtig, um sich auszutausc­hen, seinen Stand zu ermitteln. Schon kleine Fortschrit­te in der Gruppe sind in der Klasse Erfolgsges­chichten.“

 ?? Foto: Felix Kästle, dpa ?? Für manche Schüler endet der Unterricht vorzeitig vor der Türe: Der verantwort­liche Lehrer sucht dann das Gespräch. Kommt es regelmäßig zu Verstößen gegen die Schul ordnung, spricht er einen Verweis aus.
Foto: Felix Kästle, dpa Für manche Schüler endet der Unterricht vorzeitig vor der Türe: Der verantwort­liche Lehrer sucht dann das Gespräch. Kommt es regelmäßig zu Verstößen gegen die Schul ordnung, spricht er einen Verweis aus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany