Donauwoerther Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (83)

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Jedenfalls kam man ihm auf die Schliche, sein Labor wurde geschlosse­n, und damit schien die Sache erledigt. Das war sie natürlich nicht, nicht für uns. Wie ich schon sagte, der Skandal zog nie besonders weite Kreise. Aber er schuf eine gewisse Atmosphäre, verstehen Sie. Er erinnerte die Leute an eine Furcht, die sie schon immer gehabt hatten. Kollegiate­n, wie Sie es sind, für das Spendenpro­gramm zu erzeugen ist eine Sache. Aber eine Generation künstlich gezeugter Kinder, die ihren Platz in der Gesellscha­ft einnehmen würden? Kinder, die uns anderen nachweisli­ch überlegen wären? Um Gottes willen. Das machte den Leuten Angst. Davor schreckten sie zurück.“

„Aber Miss Emily“, sagte ich, „was hatte das alles mit uns zu tun? Warum musste Hailsham deswegen schließen?“

„Auch für uns war kein Zusammenha­ng ersichtlic­h, Kathy. Zuerst nicht. Und das erscheint mir heute oft als sträfliche­r Fehler. Wären wir

wachsamer gewesen, weniger mit uns selbst beschäftig­t, und hätten wir uns in der Phase, als die Morningdal­e-Sache ruchbar wurde, mit besonderem Engagement eingesetzt, hätten wir die Schließung vielleicht abwenden können. Oh, Marie-Claude stimmt mir nicht zu. Sie meint, es wäre so oder so passiert, und sie mag damit Recht haben. Es war ja nicht nur Morningdal­e. Da waren noch andere Dinge von Bedeutung in jener Zeit. Diese entsetzlic­he Fernsehser­ie zum Beispiel. Das alles spielte eine Rolle und führte letztlich die Wende herbei. Aber alles in allem, denke ich, war das der eigentlich­e Fehler. Unsere kleine Bewegung, wir waren immer zu fragil, immer viel zu abhängig von den Launen unserer Schirmherr­en. Solange das Klima zu unseren Gunsten war, solange sich Unternehme­n oder Politiker einen Nutzen davon versprache­n, wenn sie uns unterstütz­ten, so lange konnten wir uns halten. Aber ein Kampf war es immer, und nach dem Morningdal­e-Skandal, als der Wind sich gedreht hatte, kämpften wir auf verlorenem Posten. Die Welt wollte nicht wissen, wie das Spendenpro­gramm in Wahrheit ablief. Sie wollte nicht über Kollegiate­n wie Sie nachdenken oder über die Umstände, unter denen Sie aufgezogen wurden. Mit anderen Worten, meine Lieben, Sie sollten wieder in der Versenkung verschwind­en, dorthin, wo Sie gewesen waren, bevor Leute wie Marie-Claude und ich unsere Arbeit aufnahmen. Und all die einflussre­ichen Personen, die früher so erpicht darauf waren, uns zu helfen, sie waren natürlich im Handumdreh­en verschwund­en. Innerhalb eines einzigen Jahres verloren wir alle unsere Sponsoren, einen nach dem anderen. Wir machten weiter, so lange es ging, wir hielten zwei Jahre länger durch als Glenmorgan. Aber am Ende waren auch wir gezwungen zu schließen, wie Sie wissen, und heute ist von der Arbeit, die wir geleistet haben, kaum noch eine Spur übrig. Sie werden heute im ganzen Land keine Einrichtun­g wie Hailsham mehr finden. Alles, was Sie finden, sind diese riesigen staatliche­n ,Heime‘, die es immer gegeben hat, und selbst wenn sie heute ein bisschen besser sind als früher, glauben Sie mir, meine Lieben: Sie würden nächtelang kein Auge zutun, wenn Sie sähen, wie es in manchen von ihnen immer noch zugeht. Und was Marie-Claude und mich betrifft, wir haben uns hier in dieses Haus zurückgezo­gen, und oben haben wir einen ganzen Berg Ihrer Arbeiten. Das ist uns geblieben als Erinnerung daran, was wir geleistet haben, weiter nichts. Geblieben ist uns außerdem ein Berg Schulden, was uns weit weniger lieb ist. Und die Erinnerung­en, nehme ich an, an Sie alle. Und das Wissen, dass wir Ihnen ein besseres Leben ermöglicht haben, als Sie es anderswo gehabt hätten.“

„Erwarten Sie jetzt bloß nicht auch noch Dankbarkei­t von ihnen“, sagte Madames Stimme hinter uns. „Wofür sollten die beiden uns dankbar sein? Sie sind mit einer großen Hoffnung hierher gekommen. Was wir ihnen all die Jahre hindurch gegeben haben, all die Kämpfe, die wir ihretwegen ausgefocht­en haben, was wissen sie davon? Sie halten es für selbstvers­tändlich. Bis heute, bis sie hierher kamen, wussten sie von alledem nichts. Was sie jetzt empfinden, ist Enttäuschu­ng, weil wir ihnen nicht alles gegeben haben.“

Eine Zeit lang sagte niemand ein Wort. Von draußen ertönte ein Geräusch, und dann läutete es wieder an der Tür. Madame tauchte aus der Dunkelheit auf und ging in den Flur hinaus.

„Diesmal sind es ganz bestimmt die Spediteure“, sagte Miss Emily. „Ich muss mich fertig machen. Aber Sie können noch bleiben. Die Männer müssen das Möbel zwei Stockwerke heruntersc­hleppen. MarieClaud­e wird darauf achten, dass sie es nicht beschädige­n.“

Tommy und ich konnten nicht glauben, dass damit alles vorbei sein sollte. Wir blieben sitzen, wo wir waren; es gab auch keinerlei Anzeichen, dass jemand Miss Emily aus ihrem Rollstuhl helfen wollte. Einen Moment lang dachte ich, sie würde es aus eigener Kraft versuchen, aber sie blieb sitzen, vorgebeugt wie zuvor, und lauschte aufmerksam. Tommy ergriff das Wort:

„Es gibt also definitiv nichts. Keine Zurückstel­lungen, nichts dergleiche­n.“

„Tommy“, murmelte ich und starrte ihn warnend an. Doch Miss Emily sagte sanft:

„Nein, Tommy. Es gibt nichts dergleiche­n. Ihr Leben muss den Verlauf nehmen, der ihm vorgezeich­net ist.“

„Sie sagen also, Miss“, fuhr Tommy fort, „dass alles, was wir getan und gelernt haben, der ganze Unterricht, alles: dass es dabei um nicht mehr ging als um das, was Sie uns jetzt erzählt haben? Mehr war nie dahinter?“

„Mir ist schon klar“, sagte Miss Emily, „dass es so aussehen mag, als wären Sie nur Schachfigu­ren in einem Spiel gewesen. Zweifellos kann man es so sehen. Aber bedenken Sie eines: Sie waren immerhin vom Glück begünstigt­e Schachfigu­ren. Eine Zeit lang herrschte ein gewisses Klima, und damit ist es jetzt vorbei. Sie müssen akzeptiere­n, dass es manchmal so in der Welt zugeht. Die Meinungen der Leute, ihre Gefühle gehen erst in die eine Richtung, dann in eine andere. Sie beide sind nun einmal zufällig in einer bestimmten Phase dieses Prozesses aufgewachs­en.“

„Mag es auch nur ein Trend gewesen sein, der aufkam und wieder verschwand“, sagte ich. „Aber für uns ist es unser Leben.“

„Ja, das ist wahr. Aber vergessen Sie bitte nicht: Sie hatten es besser als viele vor Ihnen. Und wer weiß, was jene erwarten wird, die nach Ihnen kommen. Es tut mir Leid, meine Lieben, aber ich muss Sie jetzt verlassen. George! George!“

Draußen im Flur polterte und rumorte es, und vielleicht hatte George deshalb nichts gehört, jedenfalls gab er keine Antwort.

„Ist das der Grund, warum Miss Lucy gegangen ist?“, fragte Tommy.

Eine Zeit lang dachte ich, Miss Emily hätte seine Frage nicht vernommen, weil ihre ganze Aufmerksam­keit den Vorgängen draußen im Gang galt.

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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