Der Tod des Textes?
Ton, Fotos und vor allem Videos werden immer bestimmender im Internet. Ein bedeutsamer und bedenklicher Wandel unserer Wahrnehmung
Im Jahr 2015 meldete der Internetgigant Google, dass an jedem Tag auf seinen Servern durchschnittlich so viele Daten gespeichert werden, wie eine der größten Bibliotheken der Welt enthält: die Library of Congress in Washington mit 150 Millionen Medien, darunter 31 Millionen Bücher. Und im Jahr 2016 wurden so viele Daten generiert wie in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor insgesamt.
Und es wird immer schneller immer mehr. Was aber dort kursiert, sind vergleichsweise immer weniger die kleinen Datenmengen von Texten – damit mag das Computerzeitalter einst begonnen haben. Doch jetzt hält längst jeder Nutzer mit dem Smartphone ein multimediales Produktionsstudio in den Händen, Plattformen und Zugänge stehen allen offen, die Geräte selbst können Bilder und Klänge verstehen, teils bereits ihren Besitzer am Gesicht erkennen und sich per Sprache steuern lassen. Zur Informationen oder Unterhaltung muss keiner mehr lesen, auch die Kommunikation im Bereich der sogenannten „Sozialen Netzwerke“verlagert sich durch den Erfolg von Anbietern wie Instagram und Snapchat immer stärker weg von Texten.
Im Jahr 2017 hat sich, das vermeldete kürzlich die diese Entwicklung noch einmal schlagartig beschleunigt: Ton, Fotos und Videos werden im Internet immer bestimmender. So stehen wir 2018 nun vor dem Befund: Unsere Welt befindet sich auch hier in einem wesentlichen Wandel mit weitreichenden Folgen. Die Times titelte: „Welcome to the Post-Text Future“. In der gerade anbrechenden Ära „nach dem Text“wird es demnach zwar weiter Texte geben – aber ihnen wird immer weniger Aufmerksamkeit und weniger Bedeutung zukommen.
Mindestens vier Konsequenzen dieser Entwicklung sind absehbar.
1. Das heute bereits virulente Problem schwindender Lesekompetenz wird weiter zunehmen. Texte haben es im Internet ohnehin schwer, inmitten von allerlei Ablenkung, leicht Konsumierbarem und Peppigerem gewürdigt zu werden. Oftmals werden sie bloß noch überflogen, mitunter als Stichwortgeber benutzt, um eigene Meinungen im zu verbreiten. Das konzentrierte Lesen und Verstehen von längeren Texten wird darum für die vielen Ungeübten zur Strapaze und für Kinder zur Bildungshürde. Um diesem Phänomen zu begegnen, wurde in den USA an Schulen bereits ein Fach namens „Deep Reading“eingeführt, tiefes Lesen, der Umgang mit längeren Texten. Und es ist kein Zufall, dass Bildung bis hinunter zum Einzelfall sowie Aufklärung im Gesamten immer ein Projekt in Texten war. Wittgenstein schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“Der Mensch kann also nur denken, wofür er auch Worte kennt – und er muss mit ihnen etwas ver- stehen und sagen können, damit Kommunikation funktioniert: elementare Voraussetzung für das Gelingen privater und öffentlich-demokratischer Beziehungen.
2. Ton, Bild und Video vermitteln den Eindruck größerer Unmittelbarkeit und direkterer Teilhabe am wirklichen Geschehen. Das gilt vor allem für deren Wirkung. Studien haben bereits in der Unterscheidung von Zeitung und Fernsehen nachgewiesen, dass der Mensch in allen anderen Medien neben dem Text deutlich mehr über die Emotionen angesprochen wird als über rationale Argumente. Sie waren darum immer schon geeignetere Mittel für Werbung und politische PropaKommentar ganda. „Könnte irgendjemand bitte an unsere Kinder denken“, mahnt die „Wissen Sie, wie viel Macht Youtube über Ihre Kinder hat? Haben Sie Angst, das herauszufinden?“
3. Ton, Bild und Video vermitteln den Eindruck von Echtheit, von Authentizität – und sind in beidem inzwischen doch leicht manipulierbar. Hollywood kann Gestorbene digitalisiert in Filmen auferstehen und mitspielen lassen – wie den Commander des Todessterns in „Star Wars: Rogue One“. Und man muss bald kein Kenner komplexer Photoshop-Programme mehr sein, um jeden, von dem es Daten gibt, alles Mögliche in Bild und Ton tun und sagen zu lassen. Wer wird da noch unterscheiden können? Oder wollen? Zumal, wenn das Dargestellte
„Wie viel Macht hat Youtube über ihre Kinder?“
zum eigenen Weltbild passt? Und was die vermeintliche Authentizität betrifft: Mit diesem Eindruck arbeiten viele Stars und Sternchen auf Instagram und Snapchat – und verdienen daran meist durch mehr oder weniger verdeckte Werbung.
4. Je mehr Kommunikation in Ton, Bild und Video stattfindet, desto weniger bleibt von der Privatsphäre der Nutzer übrig. Jeder Nutzer liefert so unweigerlich auch manipulierbare Daten von sich; jeder steht durch die Smartphones überall im Blickpunkt multimedialer Schnittstellen zum öffentlichen Netz; jeder muss sich unentwegt mit seinen Netz-Profilen fragen, als wer er erscheinen will.
Es wäre freilich falsch zu denken, eine Beschränkung auf Text könnte all diese Probleme ausschließen. Ein twitternder Präsident, dazu die Debatten über Fake News sowie organisierte Hass-Kampagnen im Netz – all das beweist seit vielen Monaten immer wieder, dass es nicht so ist. Aber in einer „Post-Text Future“, in der andere Medien unsere Weltund Selbst-Wahrnehmung bestimmen, werden sich diese Problem wohl an beiden Enden verschärfen: Die Möglichkeiten zu manipulieren nehmen zu – und die Fähigkeiten, diese zu durchschauen und die Situation zu verstehen, nehmen ab. Die Wirklichkeit droht im Netz immer weiter zur bloßen Frage der Wirkmächtigkeit zu werden.