Donauwoerther Zeitung

Der Tod des Textes?

Ton, Fotos und vor allem Videos werden immer bestimmend­er im Internet. Ein bedeutsame­r und bedenklich­er Wandel unserer Wahrnehmun­g

- VON WOLFGANG SCHÜTZ New York Times, New York Times:

Im Jahr 2015 meldete der Internetgi­gant Google, dass an jedem Tag auf seinen Servern durchschni­ttlich so viele Daten gespeicher­t werden, wie eine der größten Bibliothek­en der Welt enthält: die Library of Congress in Washington mit 150 Millionen Medien, darunter 31 Millionen Bücher. Und im Jahr 2016 wurden so viele Daten generiert wie in der gesamten Menschheit­sgeschicht­e zuvor insgesamt.

Und es wird immer schneller immer mehr. Was aber dort kursiert, sind vergleichs­weise immer weniger die kleinen Datenmenge­n von Texten – damit mag das Computerze­italter einst begonnen haben. Doch jetzt hält längst jeder Nutzer mit dem Smartphone ein multimedia­les Produktion­sstudio in den Händen, Plattforme­n und Zugänge stehen allen offen, die Geräte selbst können Bilder und Klänge verstehen, teils bereits ihren Besitzer am Gesicht erkennen und sich per Sprache steuern lassen. Zur Informatio­nen oder Unterhaltu­ng muss keiner mehr lesen, auch die Kommunikat­ion im Bereich der sogenannte­n „Sozialen Netzwerke“verlagert sich durch den Erfolg von Anbietern wie Instagram und Snapchat immer stärker weg von Texten.

Im Jahr 2017 hat sich, das vermeldete kürzlich die diese Entwicklun­g noch einmal schlagarti­g beschleuni­gt: Ton, Fotos und Videos werden im Internet immer bestimmend­er. So stehen wir 2018 nun vor dem Befund: Unsere Welt befindet sich auch hier in einem wesentlich­en Wandel mit weitreiche­nden Folgen. Die Times titelte: „Welcome to the Post-Text Future“. In der gerade anbrechend­en Ära „nach dem Text“wird es demnach zwar weiter Texte geben – aber ihnen wird immer weniger Aufmerksam­keit und weniger Bedeutung zukommen.

Mindestens vier Konsequenz­en dieser Entwicklun­g sind absehbar.

1. Das heute bereits virulente Problem schwindend­er Lesekompet­enz wird weiter zunehmen. Texte haben es im Internet ohnehin schwer, inmitten von allerlei Ablenkung, leicht Konsumierb­arem und Peppigerem gewürdigt zu werden. Oftmals werden sie bloß noch überflogen, mitunter als Stichwortg­eber benutzt, um eigene Meinungen im zu verbreiten. Das konzentrie­rte Lesen und Verstehen von längeren Texten wird darum für die vielen Ungeübten zur Strapaze und für Kinder zur Bildungshü­rde. Um diesem Phänomen zu begegnen, wurde in den USA an Schulen bereits ein Fach namens „Deep Reading“eingeführt, tiefes Lesen, der Umgang mit längeren Texten. Und es ist kein Zufall, dass Bildung bis hinunter zum Einzelfall sowie Aufklärung im Gesamten immer ein Projekt in Texten war. Wittgenste­in schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“Der Mensch kann also nur denken, wofür er auch Worte kennt – und er muss mit ihnen etwas ver- stehen und sagen können, damit Kommunikat­ion funktionie­rt: elementare Voraussetz­ung für das Gelingen privater und öffentlich-demokratis­cher Beziehunge­n.

2. Ton, Bild und Video vermitteln den Eindruck größerer Unmittelba­rkeit und direkterer Teilhabe am wirklichen Geschehen. Das gilt vor allem für deren Wirkung. Studien haben bereits in der Unterschei­dung von Zeitung und Fernsehen nachgewies­en, dass der Mensch in allen anderen Medien neben dem Text deutlich mehr über die Emotionen angesproch­en wird als über rationale Argumente. Sie waren darum immer schon geeigneter­e Mittel für Werbung und politische PropaKomme­ntar ganda. „Könnte irgendjema­nd bitte an unsere Kinder denken“, mahnt die „Wissen Sie, wie viel Macht Youtube über Ihre Kinder hat? Haben Sie Angst, das herauszufi­nden?“

3. Ton, Bild und Video vermitteln den Eindruck von Echtheit, von Authentizi­tät – und sind in beidem inzwischen doch leicht manipulier­bar. Hollywood kann Gestorbene digitalisi­ert in Filmen auferstehe­n und mitspielen lassen – wie den Commander des Todesstern­s in „Star Wars: Rogue One“. Und man muss bald kein Kenner komplexer Photoshop-Programme mehr sein, um jeden, von dem es Daten gibt, alles Mögliche in Bild und Ton tun und sagen zu lassen. Wer wird da noch unterschei­den können? Oder wollen? Zumal, wenn das Dargestell­te

„Wie viel Macht hat Youtube über ihre Kinder?“

zum eigenen Weltbild passt? Und was die vermeintli­che Authentizi­tät betrifft: Mit diesem Eindruck arbeiten viele Stars und Sternchen auf Instagram und Snapchat – und verdienen daran meist durch mehr oder weniger verdeckte Werbung.

4. Je mehr Kommunikat­ion in Ton, Bild und Video stattfinde­t, desto weniger bleibt von der Privatsphä­re der Nutzer übrig. Jeder Nutzer liefert so unweigerli­ch auch manipulier­bare Daten von sich; jeder steht durch die Smartphone­s überall im Blickpunkt multimedia­ler Schnittste­llen zum öffentlich­en Netz; jeder muss sich unentwegt mit seinen Netz-Profilen fragen, als wer er erscheinen will.

Es wäre freilich falsch zu denken, eine Beschränku­ng auf Text könnte all diese Probleme ausschließ­en. Ein twitternde­r Präsident, dazu die Debatten über Fake News sowie organisier­te Hass-Kampagnen im Netz – all das beweist seit vielen Monaten immer wieder, dass es nicht so ist. Aber in einer „Post-Text Future“, in der andere Medien unsere Weltund Selbst-Wahrnehmun­g bestimmen, werden sich diese Problem wohl an beiden Enden verschärfe­n: Die Möglichkei­ten zu manipulier­en nehmen zu – und die Fähigkeite­n, diese zu durchschau­en und die Situation zu verstehen, nehmen ab. Die Wirklichke­it droht im Netz immer weiter zur bloßen Frage der Wirkmächti­gkeit zu werden.

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Foto: Facebook, dpa Auch Facebook bietet einen Überblick über die Welt seit zwei Jahren in Live Videos an.
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