Skelett eines Babys gefunden
In der St.-Martin-Kirche in Deiningen soll eine Fußbodenheizung installiert werden. Bei den Arbeiten werden mehrere Knochen entdeckt. Was dahinterstecken könnte
Deiningen Der Anblick erinnert eher an ein Grab als an den Innenraum einer Kirche. Mehrere lange Knochen liegen auf einem unstrukturierten Haufen übereinander. Einen halben Meter entfernt befindet sich ein zerbrochener Schädel. Die Skelette liegen in der St.-Martin-Kirche in Deiningen auf dem Boden.
Der Fußboden ist wegen der Sanierungsarbeiten in der Kirche aufgerissen. Bis zum Sommer soll eine Fußbodenheizung installiert werden. Der Archäologe Peter Knötzele zeigt mit seinen roten Fingerspitzen, die aus seinen Handschuhen herausblicken, auf eine Stelle neben dem mit einer weißen Plane überdeckten Altar. Er beginnt zu erzählen: „Da befinden sich zerkleinerte Menschenknochen. Rippenknochen und kleineres Material, vermischt mit Friedhofserde.“Die restlichen Teile liegen wenige Meter daneben.
Auf dem Weg dorthin streift der Archäologe seine Handschuhe herunter. Dann kramt er zwei Plastiktütchen aus seiner Manteltasche. In der einen ist ein Metallanhänger, in der anderen sind drei kleinere Münzen. Er legt den kleinen Anhänger auf seine Handfläche. Auf dem Metallstück sind mehrere Buchstaben eingraviert. Alles auf Latein. „Das ist ein Benediktuspfennig, der den Menschen als Schutz diente“, sagt Knötzele.
Der Pfennig hing oft an Rosenkränzen und wurde Schwerkranken ins Sterbelager gelegt. Der Anhänger stammt vermutlich aus dem 17. Jahrhundert. Ein lateinischer Schriftzug auf dem Pfennig bedeutet übersetzt: „Nicht der Drache sei mein Führer.“Dann zeigt der Archäologe die anderen drei Funde. „Das sind Brakteaten. Die sind vermutlich aus dem 12. oder 13. Jahrhundert.“Das dünne Metallblech wurde im Mittelalter fast im gesamten deutschsprachigen Raum als Zahlungsmittel eingesetzt. Auf einem der Brakteaten sind am Rand Punkte erkennbar. „Die stammen wohl aus dem Ulmer Raum“, sagt Knötzele.
Dann steckt der Archäologe die Funde wieder in seine Manteltasche zurück und bleibt vor den Knochen stehen. „Es handelt sich um mindestens neun Menschen“, sagt Knötzele. Zwei davon seien an Syphilis gestorben. Genaueres werden die Untersuchungen in den nächsten Wochen zeigen. „Die verschiedenen Bodenstrukturen zeigen, dass die Kirche in den letzten Jahrhunderten mehrfach erweitert wurde“, erklärt Knötzele.
Deshalb geht er davon aus, dass über den Friedhof gebaut wurde. Die St.-Martin-Kirche wurde aber nicht nur rein zufällig zu einem Grab. Knötzele geht langsam zur Mitte der Kirche und blickt auf eine Grube, etwa einen Meter breit und zwei Meter lang. „Das gehört nicht zu der Knochenkonzentration.“Auf der Grube stand früher der evangelische Altar.
Die Kirche war über 500 Jahre lang ein Simultaneum, eine gemein- same Pfarrkirche von katholischen und evangelischen Christen. Heute liegt an derselben Stelle ein Skelett. Es ist nicht größer als einen Meter. „Wir wissen, dass es sich um einen etwa dreiwöchigen Buben handelt“, sagt der Archäologe. Das Skelett könnte 450 Jahre alt sein.
Näheres über den Buben weiß Margarete Kneusels-Link vom Deininger Dorfverein. Sie beschäftigt sich mit dem Archiv der Gemeinde und zeigt eine Aufzeichnung daraus. Zu lesen ist von einem Buben, der am 12. April 1668 gestorben ist und einen Tag später begraben wurde. Sein Name war Johann Konrad Sturm. Kneusels-Link beginnt die Geschichte des Babys zu erzählen: „Die Friedhöfe waren bereits damals überfüllt, deshalb mussten oft alte Gräber aufgelöst werden, um Menschen beizusetzen.“Das plante auch der damalige evangelische Pfarrer, Johann Christoph Sturm, mit seinem verstorbenen Buben.
Das Grab auf dem Friedhof war bereits für den kleinen Johann Konrad hergerichtet. Zwei Bewohner der Deininger Gemeinde, Hans Keller und sein Sohn, protestierten dagegen. Sie waren katholische Christen und verhinderten die Beerdigung in letzter Sekunde. Aus folgendem Grund: Ihre Mutter und Großmutter hätte an der Stelle des Begräbnisses die letzte Ruhe gefunden. Sturm beschloss daraufhin, seinen kleinen Buben in der Kirche zu beerdigen. Direkt unter dem evangelischen Altar. Johann Konrad Sturm wurde drei Wochen alt.
Ob es sich bei dem Skelett tatsächlich um den Buben handelt, kann Knötzele erst in ein paar Wochen sicher sagen – sobald die Untersuchungen der Knochenfunde abgeschlossen sind.