Donauwoerther Zeitung

Östlich von Deutschlan­d

Auf Erkundungs­fahrt durch ziemlich unerforsch­te Nachbarlän­der

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Navid Kermani: Entlang den Gräben C. H. Beck, 442 S., 24,95 ¤

Aus den Nachrichte­n kennen wir die Landstrich­e alle: Ukraine, Krim, Tschetsche­nien, Bergkaraba­ch, Armenien, Südossetie­n, Aserbaidsc­han, Georgien. Die meisten nehmen wir nur als Krisenregi­onen wahr, wo der Krieg tobt, wo das Elend haust, wo ein Diktator sein Volk knechtet oder wo der havarierte Reaktor strahlt. Über die Leute dort, wie sie ihren Alltag leben, was sie denken, wie sie fühlen in der Begegnung mit einem Deutschen, davon wissen wir nichts.

Wussten wir nichts. Denn Navid Kermani hat sich von seiner Heimatstad­t Köln aus durch den Osten Europas bis nach Isfahan, der Heimat seiner Eltern, aufgemacht. „Entlang den Gräben“nennt der deutsch-iranische Schriftste­ller seine Reiserepor­tage, die sich mutig in die Kampfzonen der Geschichte wagt. Mitunter wird dort noch immer scharf geschossen – wie in Tap Qaragoyunl­u, einem Dorf, das genau auf der Waffenstil­lstandslin­ie zwischen Aserbaidsc­han und Armenien liegt. Das Leben spielt sich nur auf einer Seite der Straße ab, da sei man vor Schusswech­seln sicher. Andernorts überwiegen die Gräber – wie in Litauen. Nirgends seien prozentual mehr Juden in der Schoah umgekommen, nämlich 95 Prozent. Man könnte Kaunas und Vilnius mit „Stolperste­inen“pflastern, schreibt Kermani. Doch vor SS und Wehrmacht wütete schon der sowjetisch­e Geheimdien­st in der Bevölkerun­g – und es ist die Frage, wen die Leute dort eher als Befreier empfanden.

Kermani hat seine Reise in den Osten bestens vorbereite­t. Überall warten Gesprächsp­artner auf ihn – ältere und jüngere gleicherma­ßen, sodass sich eine atmosphäri­sch dichte, differenzi­erte Erzählung ergibt. Zumal Kermani ein geduldiger Zuhörer ist, der auch extremere Ansichten für sich sprechen lässt. Und davon existieren in der postsowjet­ischen Gesellscha­ft mit ihren Konflikten der Nationalit­äten und Kulturen eine ganze Menge. Alte Rechnungen stehen offen – mit früheren Besatzern, mit unerwünsch­ten Völkerscha­ften, mit fremder Religion.

Der reisende Schriftste­ller staunt über seinen Befund, der die Vergangenh­eit oft in die Gegenwart verlängert: „So viele Völker, die auftauchen, wo sie dem Schulatlas nach gar nicht hingehören, die wandern, vertrieben werden oder sich miteinande­r, nebeneinan­der arrangiere­n, selten zu Freunden werden und wenn, dann meistens erst, nachdem sie sich die Köpfe eingeschla­gen haben: Griechen, Russen, Kosaken, Tataren,

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