Die Glocke
Donauwörth bekommt eine neue Glocke – nach 630 Jahren. Was das mit dem Bombenangriff 1945 zu tun hat
Festgemauert in der Erden Steht die Form aus Lehm gebrannt. Heute muß die Glocke werden, frisch, Gesellen, seid zur Hand! (Schiller, Die Glocke)
Donauwörth Sie hatte alles überstanden – sonnige wie trübe Tage. Sie hing in den Zeiten des Mittelalters hoch droben im Kirchturm – damals noch in der Ulrichskirche –, sie läutete dort im Turm des Liebfrauenmünsters, als Napoleons Truppen durch Donauwörth zogen. Sage und schreibe 630 Jahre zählt die Glocke im Turm der Stadtpfarrkirche. Sie hing auch dort, als amerikanische Bomber in den letzten Kriegstagen ihre tödliche Last über den Häusern der Donauwörther abluden. Doch jetzt bekommt das Münster Zu Unserer Lieben Frau eine neue Glocke. Die Geschichte, die dahintersteckt, ist indessen eine sehr persönliche.
Franz Deibler war zehn Jahre alt, als vor exakt 73 Jahren, am 11. April 1945, amerikanische Bomber Donauwörth anvisierten. Sie orientierten sich an der Donau, jedoch waren die Ziele bis dahin, wie Stadtarchivar Ottmar Seuffert weiß, allen voran die größeren Städte am Fluss, wie etwa Ingolstadt. An jenem warmen Frühlingstag sollte es anders sein. Ein Feuersturm sorgte binnen Minuten für eine furchtbare Tragödie. Als die Reichsstraße und auch Deiblers Elternhaus am Eck zur Augsburger Botengasse von Bomben getroffen wurden, fiel seine Familie dem Angriff zum Opfer: der Vater Franz Deibler (geboren 1900), die Mutter Anna (1911) so- wie die Geschwister Wolfgang (1935), Marlene (1937) und Wilhelm, der erst einige Wochen alt war. Sie alle starben im Metzgereianwesen der Familie in der Reichsstraße 45, direkt neben dem Münster.
Der zehnjährige Franz Deibler war am Schicksalstag durch Zufall außerhalb der Stadt. Er wurde auf einen Schlag zum Vollwaisen und stand im wahrsten Sinne des Wortes vor Trümmern. Später erlernte er das Handwerk seines Vaters und machte sich als Unternehmer in der Region einen Namen.
Deibler resümiert heute in tragischer Versform über diese schwere Zeit: „Luftminen waren der Gruß der Befreier. Die Nazis verließen das sinkende Schiff. Sühnen und sterben mussten die anderen. Frauen und Kinder, die unschuldig sind.“Auch Stadtarchivar Seuffert betont, dass zu jenem Zeitpunkt die völlige Niederlage in der Region bereits offenbar gewesen sei. Auch militärstrategisch sei der Angriff zu diesem Zeitpunkt mehr als fraglich gewesen, auch wenn die Lage der Stadt als Verkehrknotenpunkt mit Donauübergang letztlich „verhängnisvoll“war, wie der Historiker erklärt. Donauwörth zählte 4000 Einwohner, in den zwei Angriffswellen vom 11. und 19. April 1945 wurden 75 Prozent der Altstadt zerstört. Etwa zehn Prozent der Einwohner, fast ausnahmslos Zivilisten – und dabei vor allem Frauen und Kinder – kamen durch die Detonation der Spreng- und das zerstörerische Werk der Brandbomben ums Leben. Die Opfer der Luftangriffe wurden, wenn man die sterblichen Überreste überhaupt fand, zunächst in die Stadtpfarrkirche gebracht – auch Franz Deiblers Familie.
Auch dieser enge persönliche Bezug ließ den Überlebenden Franz Deibler nun zum Stifter der neuen Glocke werden. Sein Anliegen ist es, mit der Glockenstiftung seiner Familie, besonders seiner Mutter Anna, und aller damals in Donauwörth Getöteten zu gedenken. Das wird sich auch in der neuen Glocke direkt widerspiegeln. In einer oben umlaufenden lateinischen Inschrift werden die Opfer und die Familienmitglieder bedacht – außen finden sich drei Reliefbilder: die Mater Dolorosa, die schmerzhafte Muttergottes, angelehnt die Donauwörther Pìetà von 1508.
Jene spätgotische Schnitzarbeit steht heute auf demselben Seitenaltar der Stadtpfarrkirche, vor dem 1945 die Toten der Luftangriffe aufgebahrt waren. Ferner findet sich ein Bild der einst zerstörten Stadtpfarrkirche, deren Kirchenschiff bei jenem ersten Angriff vom 11. April 1945 schwere Schäden erlitt. Das Münster wurde damals durch das beherzte Eingreifen von Mesner Eduard Weindl vor der vollkommenen Zerstörung bewahrt. Weindl warf mit Familienmitgliedern und Freunden die Brandbomben wieder vom Kirchendach.
Schließlich gibt es auf der neuen Glocke ein Sterbekreuz für Anna Deibler. Die Glocke soll fortan die Verstorbenen und das Vergangene in Erinnerung und ins Gebet rufen. Unten umlaufend steht des Weiteren die Inschrift: „Unsere Städte sind wie große Altäre, die Tag und Nacht brennen, Unsere Dome liegen wie offene Weihgefäße, Unsere Türme stehen wie Kerzen in den Nächten.“Hierbei handelt es sich um ein Zitat aus der Grabrede, die Pater Ulrich Lang, OMI, hielt. Der Ordensgeistliche hatte dem Stifter Lebensmut, Stütze und Halt gegeben, das Zitat hat sich bis heute tief in das Gedächtnis Deiblers eingebrannt. Die Inschrift soll die für jüngere Generationen kaum mehr vorstellbare Dramatik des Geschehenen zeigen. Die Glocke selbst ist Ausdruck der Dankbarkeit wie auch ein Mahnzeichen, eben dankbar zu sein für friedliche Verhältnisse.
Dass die älteste Glocke im Münster, die all die bewegten Zeiten überdauert hat, jetzt ausgewechselt wird, hat nichts mit dem Schrecken des Krieges zu tun. Sie war vor einigen Jahren bereits beeinträchtigt, sodann ist sie gesprungen – das Geläut im Ganzen ist aktuell nicht mehr voll einsatzfähig.
Historiker gehen davon aus, dass jene Glocke mit dem Schlagton f, einem Durchmesser von 114 Zentimeter und einem Gewicht von 1500 Kilogramm im späten 14. Jahrhundert in der Gusshütte des Nürnberger Gießers Hermann Kessler II. gefertigt worden war. Sie hing bereits in der Vorgängerkirche des Liebfrauenmünsters und wurde 1467 im Turm der gotischen Kirche angebracht. Wie Stadthistoriker Seuffert erklärt, sei das hohe Alter auch für eine Kirchenglocke etwas wirklich Besonderes. Er wüsste von keinem vergleichbaren Geläut hierzulande, das so lange im Einsatz war.
Allerdings stand die alte Glocke in der Geschichte wiederholt vor ihrem Ende. Schon im Ersten Weltkrieg entging sie dem Einschmelzen, einige Jahre später im nächsten Weltenbrand lag sie schon bereit für einen Ofen in Hamburg. Auf einem sogenannten „Glockenfriedhof“harrte sie dort bis 1947. Im selben Jahr wurde sie wieder ihrer eigentlichen Bestimmung in Donauwörth übergeben.
Die neue Glocke wurde erst am vergangenen Freitag in der traditionsreichen Gießerei Grassmayr in Innsbruck im Beisein der Stifterfamilie und von Dekan Robert Neuner gegossen. Erst gestern ist die Gussform geöffnet worden. Die Daten der neuen schließen an die alte Glocke an: stolze 1540 Kilogramm, 132 Zentimeter Durchmesser. Der Guss der Annaglocke um 15 Uhr war ein würdiges Ereignis, als Dekan Neuner „Großer Gott, wir loben Dich“anstimmte. Das Gottvertrauen auch in Zeiten der Not wird darin betont: „Alle Tage wollen wir Dich und Deinen Namen preisen und zu allen Zeiten dir Ehre, Lob und Dank erweisen. Rett aus Sünden, rett aus Tod, sei uns gnädig, Herre Gott.“Der Weihetermin in Donauwörth steht noch nicht fest. Eines ist laut Seuffert fest geplant: Die alte Glocke wird in Donauwörth bleiben – und wohl auch ihren Platz im Gottesdienst bekommen.
Auf einen Schlag wurde er zum Vollwaisen
Das Zitat aus der Grabrede brannte sich ein