Donauwoerther Zeitung

„Wir sind ein Störfaktor, und das ist gut so“

Ohne den Augsburger Architektu­rhistorike­r würde es das Münchner NS-Dokumentat­ionszentru­m wohl nicht geben. Dort scheidet er jetzt aus dem Amt. Ein Gespräch über Widerständ­e, Aufklärung und Chris Dercon

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Herr Nerdinger, bei seinem Abschied von München hat der soeben in Berlin gescheiter­te Volksbühne­n-Intendant Chris Dercon gesagt, er würde zwei Menschen besonders viel verdanken: dem Filmemache­r Alexander Kluge und Ihnen. Worauf hat er angespielt? Winfried Nerdinger: Auf das Haus der Kunst. Gleich nachdem er 2003 als Direktor verpflicht­et wurde, bat er um ein Gespräch. Er wollte wissen, wie man mit NS-Architektu­r umgeht, und wir haben uns öfter getroffen. Mir gefiel, wie sehr er sich mit dem Thema auseinande­rgesetzt hat und wie überlegt er mit der Geschichte dieses Baus umgegangen ist. Ganz im Gegensatz zu anderen, die nur von wunderbare­n Ausstellun­gsräumen sprechen.

Hätten Sie Dercon von der Volksbühne abgeraten?

Nerdinger: Das hätte ich mir nicht angemaßt. Aber es war wohl ein Fehler, dass er die Stelle trotz des enormen Gegenwinds auch angetreten hat. Fast ein Jahr lang vor dem Hintergrun­d zu experiment­ieren, dass ohnehin alles negativ aufgenomme­n wird, damit hat er sich leider selbst geschadet. Und er ist in die Fallstrick­e der Berliner Kulturpoli­tik geraten. Trotzdem: Die Häme hat er wirklich nicht verdient. Solche mutigen Menschen sind die Motoren unseres Kulturbetr­iebs. Wie wollen Sie Menschen umstimmen, die sich ihr Weltbild längst gezimmert haben? Die kommen ja auch nicht an einen Ort wie das NS-Dokuzentru­m. Nerdinger: Sie kommen schon, wir haben etliche Rechte hier gehabt. Das kann man im Internet verfolgen, wo sie ihre Eindrücke auf ihre Webseiten stellen. Sie setzen sich immerhin damit auseinande­r. Das Entscheide­nde ist aber, dass man früher ansetzt, also bevor sich die Vorurteile verhärtet haben. Das muss im Elternhaus und in der Schule geschehen. Deshalb ist es so wichtig und erfreulich, dass uns sehr, sehr viele Schulklass­en besuchen. Bei Umfragen unter Lehrern und Schülern wird rundum positiv beurteilt, wie wir hier Geschichte vermitteln – und zwar gegründet auf Wissen, ohne jede Inszenieru­ng, und mit Bezug zur Gegenwart.

Aufklärung war das große Thema, als Sie in den 60er Jahren studiert haben. Wenn Sie an den Architektu­rstudenten Winfried Nerdinger zurückdenk­en?

Nerdinger: Der zog auch mit Transparen­ten durch die Ludwigstra­ße. Ja, natürlich haben mich mein Elternhaus und das Engagement meines Vaters im Widerstand geprägt. Aber dieser Aufstand der Studenten war für mich ein ganz wichtiges Ereignis. Dass man überhaupt eine Autorität, jede Autorität hinterfrag­t und nicht einfach Macht als Macht anerkennt, ist etwas, das ich aus meiner Studentenz­eit mitgenomme­n habe.

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Foto: Orla Connolly „Wenn man Wahrheiten öffentlich ausspricht, macht man sich vielfach nicht beliebt“: Winfried Nerdinger.

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