Donauwoerther Zeitung

Der gestrauche­lte Volksheld

Nikol Paschinjan will Armenien von Korruption befreien. Wie der 42-Jährige die Massen für einen Neuanfang begeistert­e – und zunächst doch kläglich scheiterte

- Inna Hartwich

Am Ende waren es zehn Stimmen mehr gegen ihn als für ihn. Als „Gefahr für das Land“hatte ihn der Fraktionsc­hef der regierende­n Republikan­ischen Partei Armeniens bezeichnet. Für die Straße ist er weiterhin der Held: Nikol Paschinjan, der gestern in Anzug und Krawatte vor dem Parlament Rede und Antwort stand, aber nicht Ministerpr­äsident wurde.

Die Demonstrat­ionen in Eriwan gehen damit weiter. Die politische Krise in der armen Südkaukasu­sRepublik hält an. Tag für Tag waren die Menschen vor die Nationalga­lerie auf dem Platz der Republik in Eriwan gekommen. Hatten ausgeharrt bei Sonne und Wind, auch bei Regen. Begeistert riefen sie „Nikol, Nikol“, wenn Paschinjan in Tarnfleck-Shirt, mit Baseball-Kappe und Rucksack die Bühne betrat. Sie sind zu seinem Markenzeic­hen geworden, zum furchtlose­n Gesicht des armenische­n Protests, ja zum Gesicht eines neuen Armenien, wie es zehntausen­de von Demonstran­ten seit mehr als drei Wochen forderten.

Der 42-Jährige wirkt wie ein Erlöser aus einem System, in dem Vetternwir­tschaft und Korruption herrschen. Genau das will er ändern, will für ein besseres Steuersyst­em sorgen, Wirtschaft­sreformen auf den Weg bringen, ein Gesundheit­ssystem schaffen, das diesen Namen verdient, die politische­n Institutio­nen stärken. Armeniens politische, wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Basis von Grund auf ändern also. Die Voraussetz­ungen sollte das Amt des Premiers schaffen. Er kämpfte und scheiterte vorerst. In einer Woche kommt das Parlament erneut zusammen, um über einen Premier abzustimme­n. Schafft es Paschinjan wieder nicht, finden Neuwahlen statt. Bereits im März hatte sich der Ex-Journalist, der einst von der Universitä­t geflogen war, mit einigen Unterstütz­ern von Gjumri, der zweitgrößt­en Stadt des Landes, nach Eriwan aufgemacht. 120 Kilometer Fußmarsch. In jedem Dorf, in jeder Stadt schlossen sich stets Unzufriede­ne der Gruppe an. Der Protest wuchs. Er erreichte die Hauptstadt und zeigte nach nur einigen Tagen, wozu er in der Lage war. Ministerpr­äsident Sersch Sargsjan, der als Präsident Armenien zu einer parlamenta­rischen Republik machte, trat nach nicht einmal einer Woche im Amt als Premier zurück. „Nikol hatte recht, ich war im Unrecht“, sagte er.

Paschinjan war bereits bei der Wahl Sargsjans zum Präsidente­n dessen erbitterte­r Gegner. Bei den Protesten im Jahr 2008 kamen zehn Menschen ums Leben. Als einer der Organisato­ren der „Massenunru­hen“wurde Paschinjan zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nach zwei Jahren kam er frei und ging erneut in die Politik, die er schließlic­h auf die Straße trug. Diese feierte ihren Sieg und wollte mehr. Echte Reformen, echte Liberalisi­erung des Landes. Die Euphorie bekam nun einen Dämpfer.

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Foto: dpa

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