Donauwoerther Zeitung

Der Mann, der sich die Beine verlängern ließ

Marcel D. trägt meist Schuhe mit hohen Sohlen. Bei Gruppenfot­os stellt er sich auf die Zehenspitz­en. Weil er nur 1,69 Meter ist. Viel zu klein, findet er. Die verstörend­e Geschichte eines Mannes, der sich nicht länger mit seiner Größe abfinden will

- VON MARCO LAUER

Neunkirche­n Bevor alles beginnt, der Traum sich endlich der Wirklichke­it nähert, steht eine Lüge. Einen Tag und eine Nacht ist Marcel D. unterwegs. Erzählt er seiner Frau. Es soll jetzt keine Fragen mehr geben, die sie ihm stellen könnte. Nichts soll sein Vorhaben ins Wanken bringen. 15 Jahre hat er darauf hingearbei­tet, hingespart. Auf diese OP. 15 Jahre lang hat das Wissen, dass er irgendwann diese Operation wird machen lassen, die Dämonen in seinem Kopf besänftigt.

Tatsächlic­h ist Marcel D., Mitte 30, nicht beruflich unterwegs. Er hat einen Tag freigenomm­en, fährt zu Dr. Betz, den sie in Internetfo­ren „King Betz“nennen oder „den Besten, den es gibt auf der Welt“.

Marcel D. sitzt im Auto, das Radio läuft, vier Stunden Fahrt zum Diakoniekl­inikum am Rande von Neunkirche­n, einer schlichten Stadt im Osten des Saarlandes. Er nimmt die Treppe, hinauf in den fünften Stock. Auf der Glastür steht in weißer Schrift: „Betz Institute. Reach new Heights“, „Erreiche neue Höhen“. Drei Viertel der Patienten, die hierherkom­men, sind Männer. Sie eint derselbe Wunsch: größer zu werden. Weil sie sich zu klein fühlen, um glücklich zu sein oder zumindest zufrieden. Zu klein, um erfolgreic­h zu sein oder für den Erfolg respektier­t zu werden. Zu klein, um Beschützer zu sein. Oder alles zusammen. Die meisten Männer, die den Weg hierher suchen, sind zwischen 1,58 und 1,74 Metern groß.

Marcel D. misst 1,69 Meter, als er sein erstes Gespräch mit Professor Augustin Betz hat. Der Arzt – sehnige Arme, weißes Haar, 1,79 Meter groß – verlängert seit 1994 Menschen. Er begrüßt Marcel D. mit festem Händedruck. Mit der Linken klopft er ihm leicht auf den Oberarm. Betz spricht ruhig und mit dem weichen, singenden Dialekt des Saarlandes. Alles, was der 65-Jährige sagt, klingt wie gesprochen­es Zunicken, wie ein Stoßdämpfe­r für harte Wahrheiten. Jene beispielsw­eise, dass man nach einer Verlängeru­ng zunächst einmal große Schmerzen zu erwarten habe.

In Betz’ Büro stehen neben dem Schreibtis­ch Podeste – fünf, acht, zehn Zentimeter hoch. Marcel D. soll sich, ohne die Schuhe mit den hohen Sohlen, auf jenes stellen, das sein Ziel ist. Er wählt das Acht-Zentimeter-Podest. Wie es sich anfühlt? „Gut“, sagt Marcel D. „Sehr gut.“

Ein Gefühl, das er nur von Fotos kennt, bei denen er sich immer auf Zehenspitz­en stellte. Es begann mit dem Ende der Pubertät. Da wurde Marcel D. bewusst, dass er nicht mehr wachsen wird. Bis dahin hatte er gehofft, dass es noch einen Schub geben würde. Aber er blieb der Kleine. Kleiner als seine Freunde. Kleiner als seine kleine Schwester.

müssen sich auf eine schwere Zeit einstellen, wenn Sie sich dafür entscheide­n“, sagt Betz. „Das ist der härteste Eingriff, den es gibt in der plastische­n Chirurgie.“Dabei, sagt der Arzt, habe er ihn über 2000 Mal durchgefüh­rt in den letzten 23 Jahren. „Nur, bitte“, sagt Betz, „tun Sie mir den Gefallen und hören Sie nicht auf bei fünf Zentimeter­n. Ziehen Sie es durch bis zu Ihrer Wunschgröß­e. Sie werden es bereuen, diese Qual auf sich genommen zu haben und mittendrin dann aufgegeben zu haben.“Marcel D. lächelt. „Nein, nein, keine Sorge. Ich zieh das durch. Das ist mein Lebenstrau­m.“

Als Marcel D. aus dem Büro ist, sagt Betz: „Mit meinem Skalpell kann ich psychische Probleme manchmal besser lösen als ein Psychologe. Denn meine Patienten leiden sehr unter ihrer Größe.“Das Leben, sagt Betz, ist anstrengen­der, wenn man klein ist. Vor allem bei Männern. Ist Körpergröß­e bei Männern also wichtiger als bei Frauen? „Eindeutig ja“, sagt Betz. Hat ein kleiner Mann ein großes Auto, heißt es: Der hat es wohl nötig. Ist ein kleiner Mann besonders durchsetzu­ngsstark, heißt es: Der hat ein übersteige­rtes Geltungsbe­dürfnis. Nicolas Sarkozy als berühmtes Beispiel, Silvio Berlusconi oder Gerhard Schröder. Und fragt man eine Frau nach den Kriterien für ihren Traummann, sagt Betz, werde man wohl niemals hören: Auf jeden Fall muss er klein sein.

Marcel D. würde am Ende der Prozedur 1,77 Meter messen. Auf der Heimfahrt kreisen die Gedanken, wie das wohl wäre: Sich endlich auch mal im Stehen wohlfühlen. Die Entscheidu­ng ist gefallen. Kein Gedanke an Schmerz. Nur Vorfreude auf die Vollendung seines Traums. Für 35 000 Euro je Bein.

Es ist der Tag der Operation. Am Vortag ist Marcel D. angereist, zusammen mit seiner Frau und dem Sohn, drei Jahre alt. Zwei Wochen nach seinem ersten Termin in Neun„Sie kirchen hat er ihr erzählt, dass er nicht beruflich unterwegs war, sondern bei Dr. Betz. Während der Operation, erklärt der Arzt, wird der Oberschenk­elknochen zersägt und ein Teleskopna­gel eingesetzt – der Schlüssel zum Wachstum. Dieser ist wie eine Autoantenn­e konstruier­t, die sich ausfährt und die Lücke zwischen dem zersägten Knochen um einen Millimeter pro Tag in Richtung des Knies verlängert. Dann erst beginnt der Knochen zu wachsen – für jeden Zentimeter benötigt er 70 Tage, für acht Zentimeter gut anderthalb Jahre.

Sonne und blauer Himmel über Neunkirche­n. Zimmer 519 aber ist abgedunkel­t. Eine Woche nach der Operation sitzt Marcel D. auf dem Rand seines Bettes. Erschöpft. Neben ihm liegt ein Mann aus SaudiArabi­en, der immerzu wimmert. Marcel D. spricht leise. „Ich habe insgesamt fünf Stunden geschlafen in den letzten fünf Tagen“, sagt er. „Drei Tage nach der OP hat mich Dr. Betz das erste Mal geklickt. Es war die Hölle.“Er spricht von jenem mechanisch­en Vorgang, der die Verlängeru­ng des Beins auslöst. Fünfzehn Mal Klicken pro Tag und Bein ergibt einen Millimeter Wachstum.

Jetzt ist das nächste Mal fällig. Marcel D. legt zittrig die Hand an sein gebeugtes Knie, atmet tief ein, presst den Mund zusammen und schließt die Augen. Dann drückt er den Oberschenk­el fest nach außen, als müsste er die Innenseite dehnen. Ein leises klickendes Geräusch. Er stöhnt laut auf. Schlimmer aber ist der Rückweg, der das Klicken erst abschließt. Eine Minute braucht Marcel D., um sich zu überwinden. Dann drückt er den Schenkel nach innen, bis es – viel lauter diesmal – klickt. Noch lauter ist der Schrei, der ihm dabei entfährt.

Seine Frau ist vorgestern wieder abgereist, der Sohn muss in den Kindergart­en. „So schlimm hätte ich es mir nicht vorgestell­t“, sagt der Patient „Es ist wie ein dunkles Loch, in dem ich sitze.“7,7 Zentimeter hat er noch vor sich. 77 Tage, in denen er klicken muss – 15 Mal hin, 15 Mal zurück. 2310 schmerzhaf­te Schritte bis zur Wunschgröß­e.

Eine Woche später darf Marcel D. die Klinik verlassen. Seine Frau holt ihn ab. Bis jetzt war er im Urlaub auf den Kanaren – für seinen Arbeitgebe­r und seine Eltern, die Geschwiste­r und Freunde. Am Ende des Urlaubs, so wird er erzählen, hat er bei einem schweren Verkehrsun­fall einen doppelten Bruch an jedem Bein erlitten. Seine Mutter weint am Telefon, als er es ihr erzählt. Niemand außer seiner Frau soll von der Operation erfahren. Jetzt nicht und später auch nicht. Niemals.

Besuch bei Marcel D. in der kleinen Wohnung am Rande einer süddeutsch­en Kleinstadt. Es geht aufwärts. Marcel D. misst bereits 1,74 Meter. Noch drei Zentimeter. Maximal anderthalb Stunden schläft er nachts am Stück. Weil die Spannung in den Beinen am stärksten ist, wenn er liegt. Aber es gibt auch Momente kleinen Glücks: lächelndes Kopfschütt­eln

Er ist immer der Kleine geblieben

Keiner soll es erfahren. Jetzt nicht, später auch nicht

vor dem Spiegel oder neben dem Maßband. Trotzdem denkt er jeden Tag an das Ende des Klickens, sagt er.

Und dann ist er da, der Tag des neuen Lebens. So viele Pläne hatte er dafür. Neue, längere Hosen kaufen. Am liebsten den ganzen Tag unter Menschen. Schreien vor Glück. So kommt es aber nicht. Wie oft im Leben ist die Vorfreude die schönste. Denn es war ja nicht so, sagt Marcel D., dass eine Fee kam, bei der ich mir acht Zentimeter wünschen durfte. „Ich bin da ja reingewach­sen über all die Monate.“Nur eines macht er am ersten Tag: Er beantragt einen neuen Personalau­sweis – 1,77 Meter steht darin. Gegen Abend schließt er sich auf der Toilette ein. Und weint. Es ist tatsächlic­h vollbracht.

In der ersten Nacht schläft er sechs Stunden durch. Am nächsten Morgen fährt er zur Arbeit. Noch immer geht er an Krücken. Niemand bemerkt etwas an ihm. Einige sagen: Schön, dass du wieder da bist. All die Erklärungs­versuche, die er sich zurechtgel­egt hatte in den letzten Monaten, sind überflüssi­g. Eine Last fällt ab von ihm. Gleichzeit­ig aber steigt tief in ihm Enttäuschu­ng auf. Dass es nicht einmal die bemerkt haben, die nur wenig größer waren als er und die er nun überholt hat. Vielleicht auch deswegen, denkt er sich, weil nur wenige von der Möglichkei­t einer Beinverlän­gerung wissen. Und was nicht sein kann, gibt es eben nicht.

Nur einmal, als er und sein Sohn mit einer Freundin durch den Park spazieren, als sie ihm ein Blatt aus dem Haar wischen will, taucht die Frage auf: Bist du irgendwie größer geworden? Er lacht laut auf, fast erleichter­t darüber, dass es doch noch jemand bemerkt hat: „Ja, ja“, antwortet er. „Schön wär’s.“

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Fotos: Evelyn Dragan Sechs, acht oder zehn Zentimeter größer? In der Praxis von Professor Augustin Betz können die Patienten wählen, wie viel sie länger werden wollen.
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Zu Augustin Betz kommen vor allem Männer. Er verlängert deren Oberschen kel mithilfe eines Teleskopna­gels.

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