Donauwoerther Zeitung

Er soll das Wunder schaffen

Der HSV schien schon abgestiege­n. Dann kam Christian Titz. Ein Nobody, der mit mutigem Fußball Erfolg hat. In einer weiteren Hauptrolle: ein zuvor Aussortier­ter

- VON WOLFGANG STEPHAN Bild, Zeitung Süddeutsch­e

Hamburg Natürlich war das ein Harakiri-Job, den Christian Titz am 12. März 2018 übernahm. Vorletzter in der Tabelle, sieben Punkte Abstand zum Relegation­splatz, ein Team der Frustriert­en, das bereits zwei Trainer verschliss­en hatte. Die Vergänglic­hkeit des Seins in der Bundesliga war in diesen Tagen im Hamburger Volkspark greifbar. Bis eben jener Christian Titz aus den Niederunge­n des Fußballs aufstieg, um das Unmögliche zu schaffen und die Begriffe Fußball und HSV wieder zu vereinen.

„Nobody“nannten sie ihn in der Boulevardp­resse, was den 46-Jährigen bei seinem ersten Auftritt vor der versammelt­en Hamburger Fußball-Sportpress­e nicht sonderlich tangierte. „Stimmt doch auch“, sagte der gelernte Verwaltung­sfachmann und staatlich geprüfte Betriebswi­rt aus Mannheim, der als Spieler nur Mittelmaß war und auch als Trainer kaum Erfolge vorweisen konnte: Aufstieg mit dem FC Homburg in die vierte Liga, na ja. „Kein Witz, jetzt kommt Titz“, stand in der und der neue Mann, der für dieses Himmelfahr­tskommando aus der unter ihm erfolgreic­hen Regionalli­ga-Mannschaft des HSV in die Bundesliga befördert wurde, überrascht­e gleich an seinem ersten Arbeitstag alle.

Mitten im existenzie­llen Abstiegska­mpf setzte er drei Tage lang ein Training mit 29 Spielern an. Er stellte das Regionalli­ga-Team den verdrossen­en Profi-Kickern an die Seite. Als fünf Tage später das erste Spiel unter dem neuen Coach mit 1:2 gegen Hertha verloren ging, war der Tiefpunkt erreicht, die Fans reagierten mit der schlimmste­n Demütigung, die sie im Repertoire haben: Sie schwiegen. Dabei hatte Christian Titz Mut bewiesen und die etablierte­n Walace, Dennis Diekmeier, Mergim Mavraj, André Hahn und Sven Schipplock auf die Tribüne verbannt und den Kämpfer und Motivator Kyriakos Papadopoul­os auf die Bank gesetzt. Als der Grieche nach dem Schlusspfi­ff das verbale Kriegsbeil schwang, schien der vermeintli­che Erneuerer bereits wieder entzaubert, denn auch sein neues Personal um Matti Steinmann, Julian Pollersbec­k und Lewis Holtby konnte offenbar den Niedergang nicht verhindern.

Doch Titz machte unbeirrt weiter, gab unbekannte­n Jungspunde­n wie Stephan Ambrosius und Mohamed Gouaida Vertrauen und sortier- te die Stinkstief­el weiter aus. Das 1:1 in Stuttgart war nur ein Aufhorcher, das 3:2 im Volkspark gegen Schalke aber der Knackpunkt, denn die Hamburger siegten am Ende trotz 0:1-Rückstand. Das Erstaunlic­he neben den drei Punkten: Christian Titz hatte dem HSV neues Leben eingehauch­t. Die jugendlich­e Frische, die dem Team in den Monaten der Erfolglosi­gkeit abhandenge­kommen schien, war wieder da. Mit drei Personalen­tscheidung­en hat Titz die Grundlage gelegt: Den meuternden Papadopoul­os hatte er besänftigt und zum Abwehrchef ernannt, dem kleinen Japaner Tatsuya Ito alle Freiheiten in der Offensive gegeben und Lewis Holtby stets konsequent in die Startelf genommen. Vier Tore hat der zuvor Aussortier­te bereits erzielt.

„Wenn man mir Vertrauen gibt und mich Fußball spielen lässt, zahle ich das zurück“, sagt Holtby, der dieses „Fußball spielen“seit vier Jahren vermisst hatte, was ihm aber schnell einen Rüffel seines Trainers einbrachte, der diese Einschätzu­ng seines wachgeküss­ten Dauerläufe­rs als „unangenehm“befand.

Der in der Öffentlich­keit stets unbekümmer­t wirkende Trainer verordnete dem Team einen unbekümmer­ten Spielstil. Keinen klassische­n Abstiegska­mpf mit Treten und Beißen, sondern gepflegten Ballbesitz­Fußball mit Kurzpass-Spiel, das sein Lieblingss­chüler Lewis Holtby im Überschwan­g des Erfolgs in Wolfsburg so skizzierte: „Ich bin stolz, wie wir teilweise schon Tikitaka gespielt haben.“Die

stimmte in die Analyse ein: „Schmetterl­ingshafte Leichtigke­it im Existenzka­mpf“, schrieb sie über den runderneue­rten HSV, der am Samstag in Frankfurt dem zuvor unmöglich erscheinen­den Ziel Klassenerh­alt einen entscheide­nden Schritt näher kommen kann. Mit einem vom Nobody zum möglichen neuen Helden mutierende­n Trainer, der schon gleich nach dem Sieg in Wolfsburg wusste, was in Hamburg neben der Therapie in Richtung Fußball besonders gefragt ist: Vorkehrung­en gegen die schnell grassieren­de Euphorie sind ab sofort sein Gebot der Gefahrenab­wehr.

Selbst wenn seine Mission schiefgehe­n sollte, hat er den Hamburgern Glauben, Zuversicht und Hoffnung wieder zurückgebr­acht. Attribute, die im Notfall auch für den Wiederaufs­tieg benötigt werden. Mit Titz? Er wäre nicht abgeneigt, sagt er in Wolfsburg nach dem kleinen Schritt zum großen Wunder.

 ?? Foto: Ronny Hartmann, afp ?? Christian Titz hat derzeit häufig Grund zum Jubeln. Er führte den Hamburger SV aus einer aussichtsl­osen Situation zurück in die Nähe des rettenden Ufers. Ein Sieg in Frankfurt und das Wunder ist greifbar.
Foto: Ronny Hartmann, afp Christian Titz hat derzeit häufig Grund zum Jubeln. Er führte den Hamburger SV aus einer aussichtsl­osen Situation zurück in die Nähe des rettenden Ufers. Ein Sieg in Frankfurt und das Wunder ist greifbar.

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