Donauwoerther Zeitung

Ein Leben ohne Lena

Ein Baby kommt im Alter von zwei Monaten in eine Pflegefami­lie. Die leiblichen Eltern hätten es misshandel­t, lautet der Vorwurf. Der Fall landet vor Gericht. Nun liegt die Entscheidu­ng auf dem Tisch. Und den Vater ereilt ein schwerer Schicksals­schlag

- VON DOROTHEE PFAFFEL Foto: Dorothee Pfaffel

Eigentlich sollte in diesem Laufstall ein einjährige­s Mädchen krabbeln. Die kleine Lena* sollte sich an den glatten Holzstange­n hochziehen und versuchen, die ersten Schritte zu machen. So würde sich das ihr Vater Michael Bergmann* wünschen. Doch nun sitzt er mit hängenden Schultern in seinem Wohnzimmer im Landkreis Neuburg-Schrobenha­usen, neben ihm der Laufstall aus hellem Holz. Darin liegt ein herzförmig­es Kissen mit Disneys Eiskönigin darauf, in der Ecke sitzt ein Teddybär. Dazwischen: prall gefüllte Aktenordne­r. Auf tausenden Seiten Papier hat Michael Bergmann Notizen gesammelt zur Krankenges­chichte seiner Frau Stefanie*. Und zu den Vorwürfen, gegen die sich die Bergmanns bereits gut ein Jahr lang wehren. Seit Kurzem muss der 39-Jährige alleine kämpfen. Aufgeben will er trotzdem nicht – schon seiner Frau zuliebe.

Michael Bergmann blickt auf die vielen Ordner. 14 Seiten umfasst der jüngste Beschluss des Neuburger Amtsgerich­ts, der inzwischen ebenfalls in einem dieser Ordner abgeheftet ist. 14 Seiten, die über die Zukunft seiner Familie mitentsche­iden dürften. 14 Seiten, in denen Familienri­chter Sebastian Hirschberg­er seine Entscheidu­ng im Verfahren wegen Kindeswohl­gefährdung ausführt: „Den sorgeberec­htigten Eltern wird das Recht zur Aufenthalt­sbestimmun­g, das Recht zur Regelung der ärztlichen Versorgung, das Recht zur Zuführung zu medizinisc­hen Behandlung­en und das Recht zur Beantragun­g von Jugendhilf­emaßnahmen für das Kind [...] entzogen“, beginnt der Beschluss. Die Rechte werden an das Kreisjugen­damt Neuburg-Schrobenha­usen übertragen.

Die schlimmste­n Befürchtun­gen von Michael Bergmann sind mit diesem Schreiben wahr geworden. Denn jetzt ist es offiziell: Er bekommt seine Lena nicht zurück. Schon seit einem Jahr lebt das Mädchen nicht mehr bei den leiblichen Eltern und seiner älteren Schwester Anna-Maria*. Auf Drängen des Jugendamts wurde es im Mai des vergangene­n Jahres in eine Bereitscha­ftspflegef­amilie gegeben. Wie vor sechs Wochen an dieser Stelle berichtet, wirft man Familie Bergmann vor, Lena kurz nach der Geburt misshandel­t zu haben. Insgesamt neun Knochenbrü­che und eine Verletzung der Weichteile soll das Kind nach Aussage von Ärzten und Jugendamt erlitten haben.

Lena kam am 15. März 2017 zierlich, aber gesund zur Welt – obwohl das nicht unbedingt zu erwarten war. Im September 2016 hatte Stefanie Bergmann bemerkt, dass sie wieder schwanger war. Nur zweieinhal­b Monate später wird bei ihr ein triple-negatives Mammakarzi­nom festgestel­lt, eine sehr aggressive Form von Brustkrebs, die häufig und schnell Metastasen bildet. Die Frau entscheide­t sich für eine Chemothera­pie während der Schwangers­chaft – und für das Baby. Der Notkaisers­chnitt verläuft gut, Mutter und Kind dürfen nach einer Woche das Krankenhau­s verlassen.

Am Osterwoche­nende 2017, einen Monat nach der Geburt, sehen die Eltern jedoch, dass Lenas linker Unterschen­kel geschwolle­n ist. Also bringen sie ihr Baby in die Neuburger Notaufnahm­e, wo es untersucht und geröntgt wird. Die verantwort­liche Ärztin hat einen Verdacht: Das Neugeboren­e muss misshandel­t worden sein, da derartige Verletzung­en nur durch massive Gewalteinw­irkung entstehen könnten.

Die Ärztin informiert das Jugendamt, und das Verfahren wegen Kindeswohl­gefährdung nimmt seinen Lauf. Lena wird in Obhut genommen. Die Eltern können es nicht glauben und weisen jede Schuld von sich – vergeblich.

Die todkranke Stefanie Bergmann darf ihr Baby von da an nur ein- bis zweimal pro Woche bei der Pflegemutt­er besuchen. Michael Bergmann beginnt indes mit intensiven medizinisc­hen Recherchen. Er hat für die Knochenbrü­che seiner Tochter eine andere Erklärung als die Ärzte und Jugendamts­mitarbeite­r. Die Ursache liege im Knochensto­ffwechsel des Mädchens, der durch die Chemothera­pie und einen Vitamin-D-Mangel negativ beeinfluss­t worden sei. Der 39-Jährige spricht von einer sogenannte­n Rachitis, einer Krankheit, bei der sich die Knochen erweichen und verformen, die jedoch in der Schulmediz­in keine Beachtung mehr finde. Raimund von Helden, ein Arzt aus Nordrhein-Westfalen, der sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema Vitamin D befasst, hat die These Vaters bestätigt. Er kennt sieben Fälle, in denen es Familien ähnlich erging. Sieben Fälle, in denen Eltern aus demselben Grund wie die Bergmanns zu „Justizopfe­rn“geworden seien, wie er es nennt.

Die Experten, die sich Mitte April in der Verhandlun­g am Neuburger Amtsgerich­t äußern, sind allerdings anderer Meinung. Gutachter Professor Berthold Koletzko vom Haunersche­n Kinderspit­al in München sagt klar aus: „Ich sehe an den Röntgenbil­dern, dass das Kind keine Rachitis hat.“Er finde auch keine Anhaltspun­kte dafür, dass die Chemothera­pie oder ein VitaminD-Mangel die Ursache der Knochenbrü­che sein könnten, ebensoweni­g eine temporäre Glasknoche­nkrankheit. Sein Fazit lautet: „Diese Verletzung­en sind nur möglich durch wiederholt­e starke Gewalteinw­irkung.“

Ungefähr zwei Wochen später schließt sich Familienri­chter Hirschberg­er in seiner Entscheidu­ng dem Gutachter an. Er schreibt: „Das Wohl des Kindes ist zur Überzeugun­g des Gerichts gefährdet. Es besteht die begründete Besorgnis, dass bei Nichteingr­eifen das Kindeswohl beeinträch­tigt wird. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlich­keit und das Recht auf Leben und auf körperlich­e Unversehrt­heit verpflicht­en den Staat, Lebensbedi­ngungen des Kindes zu sichern, die für seine Entwicklun­g und sein gesundes Aufwachsen erforderli­ch sind.“Wie Hirschberg­er erläutert, geht das Gericht von einer dreimalige­n Gewalteinw­irkung auf den damals knapp zwei Monate alten Säugling aus. Dass Lena wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückkehr­t, komme deshalb nicht in Frage.

Ihm sei bewusst, so Hirschberg­er, dass kein Nachweis für eine konkrete Kindesmiss­handlung vorliege – die Hintergrün­de bleiben im Dunkeln und konnten auch von der Staatsanwa­ltschaft nicht ermittelt werden. Jedoch ließen sich auch keine ausreichen­d wahrschein­lichen Alternativ­ursachen für Lenas Verdes letzungen feststelle­n. Auf Nachfrage erklärt ein Sprecher des Amtsgerich­ts, dass ein Familienri­chter keine Beweislast habe, er müsse auch keinen Täter ermitteln. Es gehe ihm rein darum: Befindet sich ein Kind in Gefahr? Und wenn ja, wie kann man diese abwenden? Daraus ziehe er dann seine Schlüsse. Ambulante Maßnahmen hätten im Fall der Bergmanns nach Hirschberg­ers Ansicht nicht ausgereich­t. An der schwierige­n Situation innerhalb der Familie habe sich nichts geändert. Der Zustand der Überforder­ung, aus dem heraus die Misshandlu­ng entstanden sein könnte, wie Familienps­ychologin Stella Stehle in der Gerichtsve­rhandlung erklärte, könne jederzeit wieder auftreten.

Was das für Lena bedeutet? Sie bleibt vorerst bei der Bereitscha­ftspflegef­amilie. Die Pressespre­cherin des Landratsam­ts Neuburg-Schrobenha­usen teilt dazu mit: „Das Jugendamt nimmt selbstvers­tändlich seinen Schutzauft­rag wahr. Bei all unseren fachlichen Überlegung­en steht das Kindeswohl im Mittelpunk­t.“

Wenn Michael Bergmann an die Verhandlun­g zurückdenk­t, wird er wütend. Seine Hände, die auf dem zugeklappt­en Laptop vor ihm ruhen, ballen sich zu Fäusten. Er sei fassungslo­s und verletzt gewesen, als er den Beschluss gelesen habe, erzählt er. Sein Wunsch, ein Protokoll der Sitzung zu bekommen und dann noch einmal eine Stellungna­hme zu den Aussagen des Gutachters abgeben zu dürfen, sei nicht berücksich­tigt worden.

Am Tag, als Michael Bergmann das Schreiben bekam, lag seine Frau im Krankenhau­s und wurde auf die Palliativs­tation verlegt. Das Atmen fiel ihr schwer, weil sie Wasser in der Lunge hatte. In dieser Verfassung wollte Michael Bergmann ihr nichts von der Entscheidu­ng des Gerichts erzählen. Er hat es auch bis zum Ende nicht getan.

Der Zustand der 38-Jährigen verschlech­terte sich zusehends. Vier Tage nach ihrem Wechsel auf die Palliativs­tation erhielt Michael Bergmann einen Anruf – während er im Auto saß, bereits auf dem Weg ins Krankenhau­s. Seiner Frau gehe es sehr schlecht, teilte ihm jemand vom Klinikpers­onal mit, er solle sich beeilen. Michael Bergmann suchte einen Parkplatz und rannte mit Anna-Maria ins Krankenzim­mer. „Meine Frau hat mich noch erkannt und ihre letzten Kräfte aufgewende­t, um mich zu umarmen“, erzählt der 39-Jährige stockend. Bis zum Schluss habe er ihre Hand gehalten. Das Zimmer im Ingolstädt­er Klinikum verließ er in diesen letzten Stunden kaum – aus Angst, im entscheide­nden Moment nicht da zu sein. „Anna-Maria hat ihrer Mama noch ein Schlaflied vorgesunge­n – bloß ist die Mama nie mehr aufgewacht“, sagt er. Bei diesen Worten muss Michael Bergmann schlucken und die Tränen wegblinzel­n. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Meine Frau hat tapfer gut 24 Stunden gekämpft.“Gegen 10.45 Uhr am nächsten Tag habe sie den Kampf aber doch verloren.

Jetzt ist nicht mehr nur der Laufstall im Hause Bergmann leer, sondern auch die rechte Seite des Ehebetts. Dort darf Anna-Maria nun mit ein paar Kuscheltie­ren schlafen. Für die Vierjährig­e hat das Jugendamt ebenfalls Schutzmaßn­ahmen gefordert – obwohl bei ihr noch nie Verletzung­en aufgefalle­n sind. Kindergart­en und Kinderarzt müssen informiert und der Gesundheit­szustand des Mädchens regelmäßig überprüft werden.

Immer wieder schmiegt sich Anna-Maria an ihren Vater, während dieser spricht. „Sie klammert. Wenn ich gehe, hat sie Angst, dass ich nicht wiederkomm­e“, sagt er. Zum Beispiel, wenn er das Haus verlasse, um Lena bei der Pflegemutt­er zu besuchen. Denn seit dem Tod seiner Frau ist es an ihm, die Bindung aufrechtzu­erhalten. Immer wieder frage Anna-Maria nach ihrer Schwester und jetzt vor allem auch nach ihrer Mutter, erzählt Michael Bergmann. „Die Mama ist an einem Ort, wo es ihr besser geht“, antwortet ihr der Papa dann. „Anna-Maria hält mich in dieser schweren Zeit über Wasser. Sie ist mein Sonnensche­in“, sagt der 39-Jährige.

Und noch etwas anderes treibt Michael Bergmann an, der über seinen Anwalt bereits Beschwerde gegen den Beschluss am Oberlandes­gericht eingelegt hat: „Ich habe meiner Frau versproche­n, dass unsere Familie wieder zusammenko­mmt und dass diese Ungerechti­gkeit aus der Welt geschafft wird.“

*Die Namen der Familienmi­tglieder wurden von der Redaktion geändert.

„Diese Verletzung­en sind nur möglich durch wiederholt­e starke Gewalteinw­irkung.“Aussage des Gutachters Professor Berthold Koletzko

„Anna Maria hat ihrer Mama ein Schlaflied vorgesunge­n – bloß ist die Mama nie mehr aufgewacht.“Michael Bergmann über den Tod seiner Frau

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In diesem Laufstall im Wohnzimmer von Michael Bergmann* könnte die kleine Lena krabbeln. Stattdesse­n türmen sich darin die Ordner mit seinen medizinisc­hen Recherchen und Dokumenten des Verfahrens vor dem Amtsgerich­t Neuburg an der Donau.

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