Die Auserwählten
Beim Streichen von Leno, Petersen, Sané und Tah aus dem WM-Kader kommt sich der Bundestrainer vor wie bei einem 100-Meter-Lauf: Das Zielfoto entscheidet. Ein WM-Held steigt heute ins Teamtraining ein
Eppan Joachim Löw hörte sich an wie auf einer Beerdigung, er trug passendes Schwarz. Jetzt, sagte der Bundestrainer, käme es auch auf die Familie und die Angehörigen an, „denn sie müssen die Spieler auffangen. Die Enttäuschungen sind schon sehr, sehr groß“. Keine Angst. Dahingeschieden ist niemand, beerdigt wurden unter der Sonne Südtirols lediglich die WM-Träume von Bernd Leno, Jonathan Tah (beide Bayer Leverkusen), Nils Petersen (SC Freiburg) und Leroy Sané (Manchester City). Das Quartett ist am Montag bereits abgereist.
Die Bekanntgabe der Streichliste im Medienzentrum in Girlan war eine ungewöhnliche Veranstaltung, denn Fragen der Journalisten waren nicht zugelassen. So gab der Bundestrainer gegen Ende seines Monologs und nach einem Espresso zwar die vier Namen bekannt, bei der Begründung verstieg er sich jedoch nur ins Ungefähre: Er müsse eben das große Ganze im Blick haben. Alle hätten herausragende Fähigkeiten, sehr knapp sei alles gewesen: „Wie bei einem 100-m-Lauf bei Olympia, wenn das Zielfoto entscheiden muss.“
Doch Löw wäre nicht Löw, wenn er nicht auch eine Überraschung mitgebracht hätte ins Medienzelt: Dass der 22-jährige Verheißungsstürmer Leroy Sané nicht zum Aufgebot für die WM in Russland gehören wird, war nicht zu erwarten gewesen. Der Ex-Schalker gehört beim englischen Meister Manchester City zum Stammaufgebot, Trainer Pep Guardiola schenkt ihm großes Vertrauen. In der abgelaufenen Premier-League-Saison kam Sané auf 32 Einsätze, er erzielte 14 Tore und gab 19 Vorlagen. Doch der Bundestrainer betonte auch in der Vergangenheit, dass Leistungen im Verein nicht die einzige Währung ist, die er gelten lässt: Wie funktioniert der Spieler in der Nationalmannschaft? Das zählt bei Löw mehr als alles andere, und da sah er offenbar Defizite bei Sané.
Als sich ein kleiner Kreis an Journalisten beim kurzen Gang vom Medienzelt zum Bus von Joachim Löw nicht abschütteln ließ, ging der Coach doch noch etwas ins Detail: Sané sei bei seinen Einsätzen im Nationalteam „noch nicht richtig angekommen, das hat vielleicht ein bisschen den Ausschlag gegeben“. Den Ausschlag zugunsten von Julian Brandt (Bayer Leverkusen), dem Löw eine gute Entwicklung und gute Trainingsleistungen attestierte. Brandt habe durch das Turnier um den Confed Cup im vergangenen Jahr einen Sprung gemacht. Der Kader für die Titelverteidigung müsse ausgewogen sein, so der Bundestrainer weiter, „wir können nicht hinten in der Verteidigung einen wegnehmen und dafür noch einen offensiven Spieler mitnehmen. Man kann nicht alles umdrehen, man muss diese harten Entscheidungen treffen“.
Mit Tränen, berichtete Petersens Vater dem SWR, habe sein Sohn Nils das Aus aufgenommen. Nicht wenige hatten damit gerechnet, dass der 29-Jährige Löws Turnier-Joker werden könnte. Der Freiburger, mit 15 Toren bester deutscher Stürmer der vergangenen Bundesliga-Saison, war aus dem Mallorca-Urlaub zurückgeholt worden. Löw pries die Vorzüge des Stürmers, der vor allem in Notsituationen eine Option gewesen wäre: Petersens Qualitäten als Einwechselspieler sind überragend. Der Neuling habe ein paar kleine Probleme gehabt mit der Akklimatisierung in der Nationalelf, verriet der Coach, „aber er ist von Tag zu Tag besser geworden“. Löw sagte, es lohne sich mit Petersen im Herbst weiterzuarbeiten, für das Turnier bevorzugte der Bundestrainer jedoch neben dem gesetzten Stürmer Timo Werner (RB Leipzig) den Stuttgarter Mario Gomez: „Er ist in einer sehr guten Form“, so Löw, „sehr abschlussstark und körperlich sehr präsent im Training“. Drei Spieler für diese Position mitzunehmen, „wäre nicht ideal“.
Klar ist seit Montag auch, dass die deutsche Nationalelf die Mission fünfter WM-Titel mit ihrem Kapitän Manuel Neuer angehen wird. Der Torhüter, der nach einem Mittelfußbruch im Herbst erst auf der Zielgeraden fit geworden ist, war nach dem Österreich-Spiel direkt nach München zur ärztlichen Untersuchung gereist. Die Diagnose: Daumen hoch. Er sei mit seinem Fitnesszustand und der Form sehr zufrieden, sagte Neuer, „ich mache mir über die Verletzung keine Gedanken mehr. Das Risiko zu spielen ist nicht größer als bei jedem anderen Spieler“.
Für Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona bleibt nur die Reservistenrolle.
Julian Brandt erhält Vorzug vor Leroy Sané
Fokus richtet sich auf das Spiel gegen Mexiko
Das letzte Vorbereitungsspiel am Freitag in Leverkusen gegen Saudi-Arabien wird auch für die Nummer eins zum letzten Härtetest. Das Comeback-Spiel gegen Österreich sei für ihn persönlich „sehr wichtig“gewesen, betonte Neuer, ebenso das „ehrliche Feedback der Mitspieler und Trainer“. Mit seinem Leistungsstand vor seiner dritten WM als Deutschlands Nummer 1 sei er „aktuell sehr zufrieden“, sagte Neuer.
Der Stamm der 2014er Weltmeister von Rio um eben Neuer, Mats Hummels, Sami Khedira, Mesut Özil, Thomas Müller und Jerome Boateng, der am Dienstag ins Mannschaftstraining einsteigen wird, soll es also richten in Russland. „Seine Verletzung ist völlig ausgeheilt“, berichtete Löw über Bayern-Verteidiger Boateng.
Alles ist ausgerichtet auf das erste Gruppenspiel der Weltmeisterschaft gegen Mexico am 17. Juni. Löws Blick geht nur noch nach vorne, nicht mehr zurück.