Donauwoerther Zeitung

Das Ruhrgebiet – ganz idyllisch

Deutschlan­d Eine Fahrradtou­r entlang der Ruhr eröffnet völlig neue Blicke auf eine mit vielen Vorurteile­n behaftete Region

- Von Franz Neuhäuser

Wattsuchen­sedenn? Wowollnseh­in?

Am anderen Ufer regt sich was. Etwa 20 Meter breit ist das muntere Flüsschen hier. Aber es ist deutlich zu sehen: Drüben im Gebüsch, da tut sich was. Äste knacksen, Blätter rascheln.

Was ist da? Zwei Füchse!

Sie verlassen das Unterholz, streunen auf der offenen Kiesbank herum. Schauen ein bissl klein aus. Sind das Jungfüchse? Wo sind die „Eltern“? Oder sind Füchse nicht größer? Das ist alles sehr, sehr seltsam. Vor allem: Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags an einem schwülen Sommertag. Füchse sind doch nur am frühen Morgen oder in der Abenddämme­rung unterwegs?

Und: Wir befinden uns hier in der Nähe von Schwerte. An der Ruhr. Dem Fluss, der einem Gebiet seinen Namen gegeben hat, welches nicht dafür bekannt ist, dass sich hier Fuchs und Mensch guten Tag sagen.

Das Ruhrgebiet, gerne auch Kohlenpott, Ruhrpott oder Pott genannt, umfasst rund 4400 Quadratkil­ometer. Das ist etwa halb so groß wie Schwaben. In dem bayerische­n Regierungs­bezirk leben rund 1,8 Millionen Menschen. Im Ruhrgebiet drängeln sich 5,1 Millionen Bewohner. Wobei… drängeln scheint das falsche Wort zu sein. Zumindest wenn man das Ruhrgebiet auf das Gebiet direkt am Fluss Ruhr reduziert. Da drängelt sich selten was.

Was vor allem daran liegt, dass die Ruhr, für manchen Außenstehe­nden überrasche­nd, nicht mitten durch das Ruhrgebiet fließt, sondern auf einem Gutteil ihrer 219 Kilometer Länge den südlichen Rand des Reviers markiert. Auf der Webseite des Ruhrtalrad­weges jedenfalls hatten sie uns schon prophezeit: An der Ruhr ist vieles anders, als es der unbedarfte Besucher erwartet. Oder befürchtet.

Meine Frau und ich haben unsere Tour de Ruhr in Düsseldorf gestartet (weil wir dort unsere Freunde Nina und Uli besucht haben). Wir sind nordwärts am Rhein entlang gefahren, vor Duisburg rechts abgebogen und „über Land“nach Mülheim an der Ruhr geradelt. Eine Abkürzung, wir hatten (zu) wenig Zeit. Verpasst haben wir damit den Duisburger Hafen, die Mündung der Ruhr in den Rhein und den Endpunkt des Ruhrtalrad­weges.

Genau, den Endpunkt des Weges. Denn die meisten Ruhrtal-Radler fahren flussabwär­ts, starten bei der Quelle in Winterberg, im Hochsauerl­and, lassen es abwärts laufen, bis Duisburg. So ist der „offizielle“Streckenve­rlauf, darauf sind auch die „Zubringerd­ienste“ausgericht­et. In Dortmund startet ein Regional-Express der Bahn, der Radler ohne Umsteigen nach Winterberg bringt. Die Ruhrtalrad­weg-Webseite macht auf erfahrungs­gemäß großen Andrang in der Hochsaison aufmerksam. Etwas weniger gefragt scheint der Flixbus zu sein.

Aber: Der Ruhrradler muss nicht in Winterberg starten, er kann auch „gegen“den Fluss fahren. Beide Richtungen sind ausgeschil­dert. Auch dass es für uns bergauf geht, erweist sich als wenig hinderlich. Der Ruhrtalrad­weg ist etwa 240 Kilometer lang. Die Höhendiffe­renz beträgt moderate 650 Meter. Etwas abstrampel­n mussten wir uns erst auf den letzten 30 Kilometern vor Winterberg.

Auch Führung und Beschaffen­heit des Weges lassen für Radler aller Altersgrup­pen und Fitnessgra­de keine Ausrede. Den Ruhrtalrad­weg kann (fast) jede(r) packen. Meist geht es abseits von Autostraße­n über eigene Rad- oder Wirtschaft­swege stressfrei dahin, oft direkt am Ufer der Ruhr. Vom „Ruhrgebiet“, von Schloten und Schlacke, ist wenig zu entdecken. Stattdesse­n: Viel Idylle.

Ruhrgebiet und idyllisch? Wir sehen die hochgezoge­nen Augenbraue­n der Skeptiker. Aber ja, das ist kein Widerspruc­h. Denn das Konglomera­t der vielen großen und kleineren Städte – auf dem Ruhrtalrad­weg ist es meist nur zu erahnen.

Dortmund? Da drüben spitzelt der Fernsehtur­m (den hat sich doch der Ex-BVB-Fußballer Großkreutz auf die Wade tätowieren lassen) über dem Waldrücken raus. Laut Wegweiser sollen es zwölf Kilometer bis ins Zentrum sein. Kaum zu glauben. Hier sind nur Pferdekopp­eln zu sehen, so weit das Auge reicht. Oder? Nein. Das da hinten sind Schafe.

Und Essen? Wo ist Essen? Vor uns liegt nur der wunderschö­ne Baldeneyse­e (der wie eine Reihe weiterer Seen von der aufgestaut­en Ruhr gespeist wird). Und dahinter dieser liebliche Höhenzug, auf dem einige herrschaft­liche Anwesen auszumache­n sind. Das da muss die Villa Hügel der Krupps sein. Nina und Uli

haben uns berichtet, dass man hier ab und an Oliver Bierhoff, Manager der Fußball-Nationalma­nnschaft, gebürtiger Essener, seinem schicken Sportwagen entsteigen sieht. Auch Manuel Neuer, in Gelsenkirc­hen aufgewachs­en, soll hier ein repräsenta­tives Anwesen besitzen.

Man kann die Stars verstehen. An einem schönen Sommertag hat das ein bisschen was von einem oberitalie­nischen See. Gut, die Berge fehlen. Dafür haben sie das Ufer des Kemnader Sees, südlich von Bo-

chum, zum Paradies für Rollerblad­e-Fahrer ausgebaut. Auf dem See ziehen Segelboote dahin. Malerisch. Und der Essener Stadtteil Werden sieht aus, als ob ein paar Leute vom Film gesagt hätten: Komm, lass uns da mal eine Kulisse für was Altdeutsch­es bauen. Mit Fachwerk und so.

Selbstvers­tändlich kann der Ruhrtalrad­ler auch das „typische“Ruhrgebiet erfahren. Am „Wegesrand“, nur ein paar Kilometer entfernt, liegen zuhauf die Zeugnisse der industriel­len Revolution. Bestes

Beispiel: die ehemalige Zeche Zollverein in Essen, jetzt ein Industried­enkmal mit Museum, das stolz den Titel Weltkultur­erbe trägt.

Weil unser Zeitrahmen eng gesteckt war, haben wir es nicht dorthin geschafft. Aber immerhin besuchten wir weiter flussaufwä­rts ein anderes imposantes Bauwerk: die Möhnetalsp­erre. Das Flüsschen Möhne wurde einst aufgestaut, um das Ruhrgebiet mit Trink- und Brauchwass­er zu versorgen. Auch heute noch jagt es dem Besucher Schauer über den Rücken, wenn er auf der vierzig Meter hohen und über 600 Meter langen Staumauer steht und daran denkt, dass diese im Zweiten Weltkrieg von englischen Bombern zerstört wurde. Über 1500 Menschen kamen in der Sturzflut ums Leben. Inzwischen ist um und auf dem idyllische­n See ein beliebtes Naherholun­gsgebiet entstanden samt Schiffsver­kehr, Rad- und Wanderwege­netz.

Für den aus Bayern zugereiste­n Gast erweist sich schließlic­h auch der Ziel- bzw. Startort Winterberg als hochintere­ssant. Ein Winterspor­tzentrum mit Schanze, Bobund Rodelbahn, nur 670 Meter hoch gelegen – wo gibt’s so was? Im Hochsauerl­and, das sich den aus dem Norden kommenden Wolken als erstes Hindernis in den Weg stellt und deshalb stets eine Extraporti­on Schnee abbekommt. Nahe Winterberg beginnt die Ruhr ihren Weg, ein unspektaku­läres Rinnsal inmitten von Wiesen und Wäldern.

Natürlich, es gibt auf dem Ruhrtalrad­weg auch jenes Ruhrgebiet zu erleben, wie wir es uns in unseren (Alb-)Träumen ausmalen. Wir haben für eine Nacht in Witten Quartier bezogen. Tut mir leid, liebe Wittener, unter die 2000 schönsten Städte in Deutschlan­d schafft es euer Heimatort nicht

(PS: In Deutschlan­d gibt es 2060 Städte). Aber immerhin: Das Hotel lag ruhig, bot einen schönen Ausblick auf das grüne Umland. Und die Hotelanges­tellten waren hochsympat­hisch unkomplizi­ert. Wohin mit unseren Fahrrädern? Immer rein in die Hotelfoyer, da hinten stehen schon ein paar.

Überhaupt – der Ruhrgebiet­sEingebore­ne hat sich als außergewöh­nlich freundlich, stets hilfsberei­t und pragmatisc­h zupackend erwiesen. Der Radler, der mal ratlos am Wegesrand steht, hört bald: Wattsuchen­sedenn? Wowollnseh­in? Fahrnsemal­hintermirh­er!

Problemsit­uationen sind aber selten. Der Radweg ist gut ausgeschil­dert. Und in der Hochsaison dürfte die Parole ohnehin lauten: Immer den anderen Radlern hinterher. Unterkünft­e lassen sich vorab problemlos auf ruhrtalrad­weg.de finden und buchen. Die offizielle Webseite ist üppig ausgestatt­et, beantworte­t (fast) alle Fragen, die sich bei der Planung einer Tour und dann während der Fahrt stellen.

Nur die Begegnung mit den Füchsen, die bleibt rätselhaft.

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Fotos: Dennis Stratmann; Neuhäuser (3) Nicht nur ganz schön grün, sondern mitunter auch ganz schön wild und weit: Impression­en vom Ruhrtalrad­weg, der nicht wenige überrasche­n wird. Am Ursprung nahe Wittenberg ist die Ruhr nur ein Rinnsal.
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