Das Ruhrgebiet – ganz idyllisch
Deutschland Eine Fahrradtour entlang der Ruhr eröffnet völlig neue Blicke auf eine mit vielen Vorurteilen behaftete Region
Wattsuchensedenn? Wowollnsehin?
Am anderen Ufer regt sich was. Etwa 20 Meter breit ist das muntere Flüsschen hier. Aber es ist deutlich zu sehen: Drüben im Gebüsch, da tut sich was. Äste knacksen, Blätter rascheln.
Was ist da? Zwei Füchse!
Sie verlassen das Unterholz, streunen auf der offenen Kiesbank herum. Schauen ein bissl klein aus. Sind das Jungfüchse? Wo sind die „Eltern“? Oder sind Füchse nicht größer? Das ist alles sehr, sehr seltsam. Vor allem: Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags an einem schwülen Sommertag. Füchse sind doch nur am frühen Morgen oder in der Abenddämmerung unterwegs?
Und: Wir befinden uns hier in der Nähe von Schwerte. An der Ruhr. Dem Fluss, der einem Gebiet seinen Namen gegeben hat, welches nicht dafür bekannt ist, dass sich hier Fuchs und Mensch guten Tag sagen.
Das Ruhrgebiet, gerne auch Kohlenpott, Ruhrpott oder Pott genannt, umfasst rund 4400 Quadratkilometer. Das ist etwa halb so groß wie Schwaben. In dem bayerischen Regierungsbezirk leben rund 1,8 Millionen Menschen. Im Ruhrgebiet drängeln sich 5,1 Millionen Bewohner. Wobei… drängeln scheint das falsche Wort zu sein. Zumindest wenn man das Ruhrgebiet auf das Gebiet direkt am Fluss Ruhr reduziert. Da drängelt sich selten was.
Was vor allem daran liegt, dass die Ruhr, für manchen Außenstehenden überraschend, nicht mitten durch das Ruhrgebiet fließt, sondern auf einem Gutteil ihrer 219 Kilometer Länge den südlichen Rand des Reviers markiert. Auf der Webseite des Ruhrtalradweges jedenfalls hatten sie uns schon prophezeit: An der Ruhr ist vieles anders, als es der unbedarfte Besucher erwartet. Oder befürchtet.
Meine Frau und ich haben unsere Tour de Ruhr in Düsseldorf gestartet (weil wir dort unsere Freunde Nina und Uli besucht haben). Wir sind nordwärts am Rhein entlang gefahren, vor Duisburg rechts abgebogen und „über Land“nach Mülheim an der Ruhr geradelt. Eine Abkürzung, wir hatten (zu) wenig Zeit. Verpasst haben wir damit den Duisburger Hafen, die Mündung der Ruhr in den Rhein und den Endpunkt des Ruhrtalradweges.
Genau, den Endpunkt des Weges. Denn die meisten Ruhrtal-Radler fahren flussabwärts, starten bei der Quelle in Winterberg, im Hochsauerland, lassen es abwärts laufen, bis Duisburg. So ist der „offizielle“Streckenverlauf, darauf sind auch die „Zubringerdienste“ausgerichtet. In Dortmund startet ein Regional-Express der Bahn, der Radler ohne Umsteigen nach Winterberg bringt. Die Ruhrtalradweg-Webseite macht auf erfahrungsgemäß großen Andrang in der Hochsaison aufmerksam. Etwas weniger gefragt scheint der Flixbus zu sein.
Aber: Der Ruhrradler muss nicht in Winterberg starten, er kann auch „gegen“den Fluss fahren. Beide Richtungen sind ausgeschildert. Auch dass es für uns bergauf geht, erweist sich als wenig hinderlich. Der Ruhrtalradweg ist etwa 240 Kilometer lang. Die Höhendifferenz beträgt moderate 650 Meter. Etwas abstrampeln mussten wir uns erst auf den letzten 30 Kilometern vor Winterberg.
Auch Führung und Beschaffenheit des Weges lassen für Radler aller Altersgruppen und Fitnessgrade keine Ausrede. Den Ruhrtalradweg kann (fast) jede(r) packen. Meist geht es abseits von Autostraßen über eigene Rad- oder Wirtschaftswege stressfrei dahin, oft direkt am Ufer der Ruhr. Vom „Ruhrgebiet“, von Schloten und Schlacke, ist wenig zu entdecken. Stattdessen: Viel Idylle.
Ruhrgebiet und idyllisch? Wir sehen die hochgezogenen Augenbrauen der Skeptiker. Aber ja, das ist kein Widerspruch. Denn das Konglomerat der vielen großen und kleineren Städte – auf dem Ruhrtalradweg ist es meist nur zu erahnen.
Dortmund? Da drüben spitzelt der Fernsehturm (den hat sich doch der Ex-BVB-Fußballer Großkreutz auf die Wade tätowieren lassen) über dem Waldrücken raus. Laut Wegweiser sollen es zwölf Kilometer bis ins Zentrum sein. Kaum zu glauben. Hier sind nur Pferdekoppeln zu sehen, so weit das Auge reicht. Oder? Nein. Das da hinten sind Schafe.
Und Essen? Wo ist Essen? Vor uns liegt nur der wunderschöne Baldeneysee (der wie eine Reihe weiterer Seen von der aufgestauten Ruhr gespeist wird). Und dahinter dieser liebliche Höhenzug, auf dem einige herrschaftliche Anwesen auszumachen sind. Das da muss die Villa Hügel der Krupps sein. Nina und Uli
haben uns berichtet, dass man hier ab und an Oliver Bierhoff, Manager der Fußball-Nationalmannschaft, gebürtiger Essener, seinem schicken Sportwagen entsteigen sieht. Auch Manuel Neuer, in Gelsenkirchen aufgewachsen, soll hier ein repräsentatives Anwesen besitzen.
Man kann die Stars verstehen. An einem schönen Sommertag hat das ein bisschen was von einem oberitalienischen See. Gut, die Berge fehlen. Dafür haben sie das Ufer des Kemnader Sees, südlich von Bo-
chum, zum Paradies für Rollerblade-Fahrer ausgebaut. Auf dem See ziehen Segelboote dahin. Malerisch. Und der Essener Stadtteil Werden sieht aus, als ob ein paar Leute vom Film gesagt hätten: Komm, lass uns da mal eine Kulisse für was Altdeutsches bauen. Mit Fachwerk und so.
Selbstverständlich kann der Ruhrtalradler auch das „typische“Ruhrgebiet erfahren. Am „Wegesrand“, nur ein paar Kilometer entfernt, liegen zuhauf die Zeugnisse der industriellen Revolution. Bestes
Beispiel: die ehemalige Zeche Zollverein in Essen, jetzt ein Industriedenkmal mit Museum, das stolz den Titel Weltkulturerbe trägt.
Weil unser Zeitrahmen eng gesteckt war, haben wir es nicht dorthin geschafft. Aber immerhin besuchten wir weiter flussaufwärts ein anderes imposantes Bauwerk: die Möhnetalsperre. Das Flüsschen Möhne wurde einst aufgestaut, um das Ruhrgebiet mit Trink- und Brauchwasser zu versorgen. Auch heute noch jagt es dem Besucher Schauer über den Rücken, wenn er auf der vierzig Meter hohen und über 600 Meter langen Staumauer steht und daran denkt, dass diese im Zweiten Weltkrieg von englischen Bombern zerstört wurde. Über 1500 Menschen kamen in der Sturzflut ums Leben. Inzwischen ist um und auf dem idyllischen See ein beliebtes Naherholungsgebiet entstanden samt Schiffsverkehr, Rad- und Wanderwegenetz.
Für den aus Bayern zugereisten Gast erweist sich schließlich auch der Ziel- bzw. Startort Winterberg als hochinteressant. Ein Wintersportzentrum mit Schanze, Bobund Rodelbahn, nur 670 Meter hoch gelegen – wo gibt’s so was? Im Hochsauerland, das sich den aus dem Norden kommenden Wolken als erstes Hindernis in den Weg stellt und deshalb stets eine Extraportion Schnee abbekommt. Nahe Winterberg beginnt die Ruhr ihren Weg, ein unspektakuläres Rinnsal inmitten von Wiesen und Wäldern.
Natürlich, es gibt auf dem Ruhrtalradweg auch jenes Ruhrgebiet zu erleben, wie wir es uns in unseren (Alb-)Träumen ausmalen. Wir haben für eine Nacht in Witten Quartier bezogen. Tut mir leid, liebe Wittener, unter die 2000 schönsten Städte in Deutschland schafft es euer Heimatort nicht
(PS: In Deutschland gibt es 2060 Städte). Aber immerhin: Das Hotel lag ruhig, bot einen schönen Ausblick auf das grüne Umland. Und die Hotelangestellten waren hochsympathisch unkompliziert. Wohin mit unseren Fahrrädern? Immer rein in die Hotelfoyer, da hinten stehen schon ein paar.
Überhaupt – der RuhrgebietsEingeborene hat sich als außergewöhnlich freundlich, stets hilfsbereit und pragmatisch zupackend erwiesen. Der Radler, der mal ratlos am Wegesrand steht, hört bald: Wattsuchensedenn? Wowollnsehin? Fahrnsemalhintermirher!
Problemsituationen sind aber selten. Der Radweg ist gut ausgeschildert. Und in der Hochsaison dürfte die Parole ohnehin lauten: Immer den anderen Radlern hinterher. Unterkünfte lassen sich vorab problemlos auf ruhrtalradweg.de finden und buchen. Die offizielle Webseite ist üppig ausgestattet, beantwortet (fast) alle Fragen, die sich bei der Planung einer Tour und dann während der Fahrt stellen.
Nur die Begegnung mit den Füchsen, die bleibt rätselhaft.