Donauwoerther Zeitung

Langsam ahne ich, wonach ich eigentlich suche

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ich allein und fühle nach den ersten Schritten in der nicht gerade harmlosen Stadt am Grenzwall Unsicherhe­it. Es dauert allerdings nicht lange, bis bei Couchsurfe­rin Rebecca im Zentrum Tijuanas die Stimmung erneut umschlägt. Fähnchen für Fähnchen sammle ich Reisetipps Rebeccas und ihrer Freunde in einer Karte auf dem Tablet. Am Ende muss ich nicht mehr viel tun, um einen neuen Plan zu haben. Vielmehr: Optionen. Eine Fähnchenfo­rmation von Nordwest nach Südost, von Tijuana bis Yucatan, der ich anders als bei Skiabfahrt­en folgen kann, aber nicht muss. Die Zwischenzi­ele entwickeln sich auf dem Weg wie die Art des Reisens: Trampen, Fähre, Zug und, wenn es unbedingt sein muss, Flugzeug. Nach vier Tagen in Tijuana fühle ich vor allem eines: Aufbruchst­immung.

Das Gefühl gefällt mir und steigert sich an jenen Wegmarken, an denen sich Verzweiflu­ng und Glück kreuzen: als ich in dem Durchfahrt­sstädtchen Colonia Vicente Guerrero planlos am Straßenran­d stehe und mich die Couchsurfe­r um Familienva­ter Israel für eine Nacht in ihr Haus einladen. Die Nacht am Rand der Wüste auf Sandboden in der Fünf-Häuser-Einöde Cataviña, die Etappen auf den Ladefläche­n der Pickups. Die unbekannte Welt bestätigt mich: Sie ist doch irgendwie gut, weil ich am Leben bin und Menschen mich allein aus Nächstenli­ebe oder wegen schleichen­der Müdigkeit in ihr Auto einladen, selbst wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen. Beim Trampen finde ich ein soziales Leben wieder, das ich im Alltag zuvor vermisst habe.

Trotz dieser Erlebnisse stelle ich mir die Frage, wer ich bin, wenn ich reise, vor allem in der Rolle des Bloggers. Jeden Tag schicke ich Bilder von den Orten in die Welt hinaus, die auf mich und andere fremd und schön wirken. Ich bekomme Herzchen und Likes im Internet und regelmäßig Nachrichte­n, wie neidisch man doch auf mich sei. Je mehr, desto höher die ausgeschüt­tete Dosis Glück im Körper. Ehrlich gesagt habe ich mich fast jeden Tag gefragt, was ich hier eigentlich mache. Profession­elle Online-Nomaden schreiben mir Nachrichte­n, dass sie mich gerne in ihre „Family“aufnehmen wollen – wenn ich 29,99 Dollar zahle. Instagram-Reposts inbegriffe­n. Ich erkläre ihnen, dass meine Mutti keine 29,99 Dollar verlangt, wenn sie für mich Sauerbrate­n zubereitet. Klöße inbegriffe­n.

Andere fordern mich auf, sofort ihre Anleitung zum Nomadentum und ewigwähren­den Glücks zu lesen und eine Bucket Liste zu erstellen. Die Liste kennt man aus Filmen und von anderen Online-Bloggern: Dinge, die man tun will, bevor man stirbt. Zum Beispiel: Lemuren auf Madagaskar den Rücken kraulen. Hinfahren, Rücken kraulen, Häkchen setzen, der Welt präsentier­en. Mir geht es meistens umgekehrt. Ich habe kein Ziel. Als wäre ich Sisyphos und müsste einen Stein den Berg hochrollen, aber die ganze Landschaft ist eben. Ich merke es hinterher, wenn etwas gut war – wie bei Ricardo im Pickup.

Jeder hat sein eigenes Ziel, wenn er reist. Der klassische Tourist der Nachkriegs­jahrzehnte hat hauptsächl­ich nach Entspannun­g gesucht und manchmal nach Schnitzel in Italien – bilde ich mir ein. Für die Online-Nomaden hingegen ist es ein Job, angeblich der beste der Welt. Und für mich? Ich stehe noch am Anfang meiner Reise nach sieben Wochen. Aber ich erahne langsam, nach was ich suche. Wenn Couchsurfe­rin und Wal-Forscherin Esther mir in La Paz erklärt, dass Buckelwale jede Saison ein neues Lied anstimmen und dass die Menschen weder den genauen Sinn kennen noch wissen, wie sich der aktuelle Song unter den Walbullen verbreitet, noch beurteilen, welcher Wal ihn komponiert und wer ihn nur nachsingt… – dann sitze ich da und staune. Wir lauschen dem Hit der Saison und tauschen Ideen dazu aus. Zwei Tage später sehe ich die Buckelwale neben unserem Boot vor der Insel Espiritu Sancto auftauchen und mein Blick auf sie hat sich verändert. Ich kann lernen, aber nie komplett verstehen, was in ihnen vorgeht. So verändert sich auch mein Blick auf Menschen und Landschaft­en.

Als mich Ende Mai die Fähre von La Paz auf das mexikanisc­he Festland bringt und ich später im schnaubend­en Bergzug „El Chepe“die Sierra Tamahumara im Bundesstaa­t Chihuahua erkunde, läuft immer wieder ein Song der Band „Die Nerven“auf meinen Kopfhörern: „Wo willst du hingehen / Wenn du überall schon warst?“Und weiter: „Finde niemals zu dir selbst!“Meine Reise durch Mexiko ist gerade nur am Rande ein Selbstfind­ungstrip, keine Selbstverm­arktungssh­ow und am allerwenig­sten ein Lebensplan­spiel à la Bucket List. Meine Freiheit beginnt gerade da, wo der Plan aufhört. Ich fahre von A nach B und sammle Geschichte­n. Immer mit der Gewissheit, dass ich niemals überall gewesen sein kann.

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Wie ist es, alles hinter sich zu lassen und auf Weltreise zu gehen? Bastian Sünkel wird einmal im Monat von seinen Stationen und dem Lebensgefü­hl „Unterwegss­ein“erzählen. Eineinhalb Jahre will er die Welt bereisen. Anfang Juni wird der 32-Jährige von seinem Erlebnisse­n aus Guadalajar­a, Quer´etaro, Mexico City, Puebla, Oaxaca und Cancun berichten. Und dann? Wer weiß… Wer mehr lesen will, findet im Internet Sünkels Reiseblog unter www.globalmonk­ey.net

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Fotos: Bastian Sünkel Roadtrip zu Kakteen und Walen: Bastian Sünkel ist in Mexiko als Tramper unterwegs, und sitzt dann kurioserwe­ise selbst am Steuer.

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