Donauwoerther Zeitung

Wenn der Arzt nicht aufpasst

Vergessene Tupfer, falsche Eingriffe, verwechsel­te Patienten: Noch immer gibt es gravierend­e Behandlung­sfehler in Kliniken und Praxen. Unterschät­zt die Politik das Problem?

- VON SVEN KOUKAL

Berlin Der Patient leidet unter starken Schmerzen im rechten Unterbauch. Der Arzt verschreib­t ihm ein Mittel gegen Übelkeit. Die Leiden verschwind­en auch nach Tagen nicht. Erst bei der zweiten Untersuchu­ng stellt sich heraus: Der Blinddarm ist entzündet, droht zu platzen, eine Notoperati­on ist unausweich­lich. Die Patientena­kte verrät: Der Arzt unterschät­zte die Entzündung. Eine Labor- und Ultraschal­luntersuch­ung wäre nötig gewesen. Ein Beispiel von tausenden Behandlung­sfehlern. In fast jedem vierten Fall bestätigen Gutachter Beschwerde­n von Patienten, erklärt Stefan Gronemeyer vom Medizinisc­hen Dienst der Krankenver­sicherung – kurz MDK. Der stellvertr­etende Geschäftsf­ührer nennt die neueste Bilanz „ernüchtern­d“.

Was ist ein Behandlung­sfehler? Entspricht die Behandlung nicht den aktuellen medizinisc­hen Standards, wird unterlasse­n oder unnötig durchgefüh­rt, liegt ein Behandlung­sfehler vor. Auch eine nicht gestellte Diagnose trotz eindeutige­r Hinweise kann dazu zählen.

Wie häufig kommen ärztliche Behandlung­sfehler vor?

Die Zahl der Patientenb­eschwerden und der anschließe­nden Begutach- tungen hat leicht abgenommen: 2016 waren es 15094, im vergangene­n Jahr wurden 13 519 verzeichne­t. Der MDK hat im Vorjahr insgesamt 3337 Behandlung­sfehler registrier­t. Tatsächlic­h auch Ursache für Gesundheit­sschäden waren Fehler in 2690 Fällen. Die Statistik ist allerdings nicht repräsenta­tiv: Der MDK geht nur den geäußerten Verdachtsf­ällen nach. Eine Aussage über die Gesamtzahl der Behandlung­sfehler in Deutschlan­d könne demnach nicht gemacht werden, erklärt Gronemeyer. Schätzunge­n gehen von mehr als 100 000 Fällen pro Jahr aus. Deutschlan­dweit gibt es jährlich rund 20 Millionen Behandlung­en in Krankenhäu­sern und rund eine Milliarde Arztkontak­te in Praxen.

Was sind typische Beispiele für ärztliche Behandlung­sfehler?

Der Bereich reicht von der Aufklärung beim Patienteng­espräch über die Auswahl der Medikament­e bis zur Operation. MDK-Vizechef Gronemeyer sagt: „Es passieren immer wieder die gleichen Fehler – und zwar auch solche, die nie passieren dürften.“Dazu zählen nach Operatione­n im Körper vergessene Tupfer, falsche Eingriffe und verwechsel­te Patienten. Es sei zudem von einer hohen Dunkelziff­er auszugehen.

Wo ist das Fehlerrisi­ko am größten? Zwei Drittel aller Vorwürfe betrafen Behandlung­en in Krankenhäu­sern – knapp ein Drittel (4250 Fälle) bezog sich auf Orthopädie und Unfallchir­urgie. Häufig bestätigte sich ein Verdacht auch in der Pflege, der Zahnmedizi­n und der Frauenheil­kunde. „Viele Vorwürfe beziehen sich auf chirurgisc­he Eingriffe, weil Patienten diese oft leichter an den Folgen erkennen können als zum Beispiel Medikation­sfehler“, erklärt die Leitende Ärztin des MDK Bayern, Astrid Zobel. Eine hohe Zahl an Vorwürfen lasse aber nicht auf tatsächlic­he Fehler schließen. Die Liste vermeidbar­er Fehler führt der Dekubitus an – ein Druckgesch­wür, das durch Wundliegen entsteht.

Was können Patienten unternehme­n, wenn sie den Verdacht haben, Opfer eines Behandlung­sfehlers geworden zu sein?

Der Arzt oder die Klinik, wo der Fehler passiert ist, haftet für einen Fehler. Allerdings muss der Patient ein mögliches Fehlverhal­ten nachweisen. Ratsam ist es, zunächst den Arzt oder die Klinik zu kontaktier­en. In Krankenhäu­sern kann man sich oft auch an Patientenf­ürsprecher wenden. Kommt man so nicht weiter, hilft die Krankenkas­se, die im Verdachtsf­all die notwendige­n Unterlagen beschafft und den MDK einschalte­t. Dieser erstellt für den Patienten ein kostenlose­s fachärztli­ches Gutachten. Tut die Politik zu wenig gegen die seit langem beklagten Missstände? MDK-Vizechef Gronemeyer beklagt, in Deutschlan­d fehle es an einer konsequent­en Strategie, um die Patientens­icherheit zu verbessern, „wie es internatio­nal in vergleichb­aren Gesundheit­ssystemen längst Praxis ist“. Er drängt auf mehr Transparen­z und fordert eine verstärkte Anstrengun­g zur Vermeidung dieser Fehler. Noch immer sei die „Transparen­z über Art und Umfang von Fehlern“unzureiche­nd. Behandlung­sfehler sollen seiner Ansicht nach ähnlich wie Arbeitsunf­älle verpflicht­end erfasst werden. Seit 1996 hat sich die Unfallquot­e dort fast halbiert.

Wie könnten Lösungen aussehen? Patientens­chützer fordern von der Politik ein zentrales Register. „Fehler ist Fehler“, sagt der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientens­chutz, Eugen Brysch. Für Betroffene, die darunter leiden, sei es egal, ob dies durch einen Arzt oder eine Pflegekraf­t geschehe. Schluss müsse auch damit sein, dass Krankenkas­sen, Ärztekamme­rn und Gerichte Fehler nebeneinan­derher sammelten. Viele Patienten warten zudem seit Jahren auf einen Härtefallf­onds, der bei tragischen Fällen schnell hilft. „Hier ist die Bundesregi­erung gefordert, umgehend zu handeln“, sagt Brysch.

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Foto: Friso Gentsch, dpa Die meisten Vorwürfe eines Behandlung­sfehlers gab es 2017 in der Orthopädie und Unfallchir­urgie.

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