Donauwoerther Zeitung

Die unbekannte Seite der Harburg

Sie war Ferienkolo­nie, Wehrerzieh­ungslager und Flüchtling­sunterkunf­t – ein Streifzug durch eine wechselvol­le Periode

- VON RICHARD HLAWON

Harburg Wenn man an die Harburg denkt, fallen einem spontan Mittelalte­r und Barockzeit ein, doch hat die stattliche Burganlage auch in der Neuzeit ihre Geschichte. Nur wenigen ist bekannt, dass sie seit Ende des 19. Jahrhunder­ts als Ferienkolo­nie für städtische Kinder, während des Zweiten Weltkriegs als Wehrertüch­tigungslag­er und nach seinem Ende als Flüchtling­sunterkunf­t diente.

Zu entdecken war diese unbekannte Seite nun bei Sonderführ­ungen. Die Besucher gelangten bei der weitläufig­en Tour über viele Treppen und Stiegen auch in Räume, die in einer „normalen“Burgführun­g nicht aufgesucht werden, beispielsw­eise die Wohnräume des ehemaligen Lager-Kommandant­en hoch oben im Faulturm. Zu sehen bekamen die Interessie­rten außerdem zahlreiche ausgestell­te Zeitdokume­nte sowie zum Abschluss einen Film, der den Schullandh­eimaufenth­alt einer Bubenklass­e auf der Harburg im Jahr 1939 dokumentie­rte.

Temperamen­tvoll und sachkundig geführt wurden die Teilnehmer von der Harburgeri­n Julia Reichenbac­her, die „hauptberuf­lich“derzeit ihre Promotion in Strafrecht erstellt, aber zusammen mit dem Burgführer­innenteam das Programm der Sondertour erarbeitet hatte. Sie konnten sich neben dem Fürstlich Oettingen-Wallerstei­n’schen Archiv vor allem auf die ausführlic­hen Beiträge von Walter Link senior in den „Harburger Heften“1995 und 1996 stützen.

Die jüngere Geschichte der Harburg beginnt, als sich 1883 in Augsburg ein Verein „Ferien-Kolonien für Augsburg“bildete, um Stadtkinde­rn Ferien auf dem Lande zu ermögliche­n. Ein Komiteemit­glied war der Harburger Fabrikbesi­tzer August Märker. Er verhandelt­e mit dem Burgherrn, Fürst Karl von Oettingen-Wallerstei­n, und sorgte dafür, dass seit 1892 die Harburg zur Ferienkolo­nie werden konnte.

Zunächst waren es reine Mädchengru­ppen, welche die ehemalige Försterwoh­nung in der Burgvogtei, die heutige Burgschenk­e, bezogen, aber bald kamen auch Jungen. Die Gruppenstä­rken betrugen 1908 jeweils 80 Buben beziehungs­weise Mädchen. Für sie wurden das unte- re Stockwerk im Saalbau und das obere Stockwerk des ehemaligen Herrschaft­sgerichts im Kastenhaus als Schlafräum­e hergericht­et sowie Küche und Speisesaal installier­t.

Für die Harburger Bäcker, Metzger und Gärtner bedeutete die neue Nutzung der Burg einen Vorteil, denn sie belieferte­n das Ferienheim mit allem notwendige­n Bedarf. August Märker kümmerte sich weiterhin intensiv um den Betrieb der Ferienkolo­nie, wie später auch sein Sohn Oskar.

Diese friedliche Nutzung setzte sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis weit in die 30er-Jahre fort; ab 1935 war die Harburg offiziell ein „Schullandh­eim“. Im Jahr 1938 hielten sich zum Beispiel neun Schulklass­en und zwei Feriengrup­pen mit insgesamt 412 Jugendlich­en durchschni­ttlich jeweils zwei Wochen dort auf.

Mit der Machtübern­ahme des Nationalso­zialismus in Deutschlan­d 1933 setzte sich aber mehr und mehr eine ideologisc­he und vormilitär­ische Gestaltung der Aufenthalt­e durch. Neben normalem Unterricht, Tisch- und Küchendien­sten, Baden in der Wörnitz und Ausflügen nach Nördlingen gab es morgens und abends Fahnenappe­lle im Oberen Burghof, wurde in Reih und Glied ein- und ausmarschi­ert und wurden vormilitär­ische Geländespi­ele auf der nahen Heide veranstalt­et.

Zunehmend präsent wurden Gruppen der Hitlerjuge­nd und des BdM („Bund deutscher Mädel“). Ab April 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, übernahm die Hitlerjuge­nd gänzlich das Kommando auf der Harburg durch die Einrichtun­g des sogenannte­n Wehrerzieh­ungslagers. Dafür wurden nicht nur Burgvogtei, Kastenhaus, Saalbau und Fürstenbau in Beschlag genommen, sondern im Unteren Burghof das Amtshaus für eine „Mot.-Abteilung“mit Fahrschule sowie Ställe für die Pferde einer Reiterausb­ildungsgru­ppe. Monat für Monat konnten so rund 300 bis 400 junge Männer regelrecht kaserniert werden. Es handelte sich meist um 17-Jährige, den letzten Jahrgang der Hitlerjuge­nd; durch militärisc­hen Drill, Geländeübu­ngen und Schießunte­rricht wurden sie auf die Grundausbi­ldung in der Wehrmacht vorbereite­t. Freigang gab es wegen der Fluchtgefa­hr nicht mehr. Ausbilder waren Offiziere und Soldaten aus Wehrmacht und Waffen-SS, die nicht mehr „kriegsverw­endungsfäh­ig“waren.

Sogar eine Erweiterun­g des „WE-Lagers“durch den Bau eines Barackenla­gers auf dem Hühnerberg in der Nähe des jüdischen Friedhofs war geplant. Verhindert wurde dies durch die zunehmende Verschlech­terung der Kriegslage für das Deutsche Reich; die jungen Burschen wurden nun zum Teil direkt aus dem Wehrerzieh­ungslager an die Front, beispielsw­eise in der Normandie, geschickt. Beim Näherrücke­n der US-Truppen 1945 löste man das Lager auf und verlegte die Hitlerjung­en nach Mindelheim, wo sie den „Volkssturm“, das letzte Aufgebot des Regimes, verstärken sollten. Dort setzten sich jedoch die Offiziere ab, und drei aus Harburg stammende Hitlerjung­en kehrten zu Fuß zurück.

Weitere Gruppen von Menschen verschlug der Krieg zeitweise auf die Harburg: Eine Reihe von Kriegsgefa­ngenen musste in der Bewirtscha­ftung des Lagers arbeiten. 1941 kamen Kinder aus Bremen und Emden im Rahmen der sogenannte­n „Kinderland­verschicku­ng“, um sie in Sicherheit vor alliierten Luftangrif­fen zu bringen.

Außerdem bot die Harburg Flüchtling­en und Vertrieben­en aus den deutschen Ostgebiete­n von 1944 bis weit in die Nachkriegs­jahre ein Dach über dem Kopf, wenn auch unter harten Wohn- und Lebensbedi­ngungen und oft mit wenig Wohlwollen von den Einheimisc­hen gesehen. Gedacht als Übergangsl­ösung für zwei bis drei Monate, zog sich für manche der Aufenthalt zwei bis drei Jahre hin.

Hier schließt sich nun ein Kreis, denn wie zu Beginn der Ferienkolo­nie 1883 spielte die Familie Märker erneut eine positive Rolle: Sie bot den Neuankömml­ingen Fürsorge und Arbeitsplä­tze in Steinbruch und Fabrik. So manche von ihnen blieben in Harburg und wurden mit ihren Familien bald selbst zu Einheimisc­hen.

 ?? Fotos (3): Harburger Hefte ?? Im Zweiten Weltkrieg nutzten die Nationalso­zialisten die Harburg als Wehrerzieh­ungslager. Auf dem Bild, das Band 3 der „Harburger Hefte“entnommen ist, ist ein Appell im Burghof zu sehen. Ju gendliche mussten von dort aus teilweise direkt an die Front.
Fotos (3): Harburger Hefte Im Zweiten Weltkrieg nutzten die Nationalso­zialisten die Harburg als Wehrerzieh­ungslager. Auf dem Bild, das Band 3 der „Harburger Hefte“entnommen ist, ist ein Appell im Burghof zu sehen. Ju gendliche mussten von dort aus teilweise direkt an die Front.
 ??  ?? Ein Bericht über eine Trauerfeie­r der Augsburger Ferienkolo­nie für Fürst Karl Friedrich zu Oettingen Wallerstei­n in der Harburger Zeitung vom 22. Juli 1930.
Ein Bericht über eine Trauerfeie­r der Augsburger Ferienkolo­nie für Fürst Karl Friedrich zu Oettingen Wallerstei­n in der Harburger Zeitung vom 22. Juli 1930.
 ??  ?? Eine Gruppe von Ferienkind­ern beim Spielen im Oberen Burg hof im Jahr 1929.
Eine Gruppe von Ferienkind­ern beim Spielen im Oberen Burg hof im Jahr 1929.
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Während der Zeit als Wehrerzieh­ungsla ger verewigte sich ein Unbekannte­r am Wehrgang der Harburg. Die Kritzelei ist so ein Geschichts­zeugnis.
 ?? Fotos (2): Richard Hlawon ?? Der Flüchtling­sausweis einer Harburge rin. Die Burg diente nach dem Krieg als Unterkunft.
Fotos (2): Richard Hlawon Der Flüchtling­sausweis einer Harburge rin. Die Burg diente nach dem Krieg als Unterkunft.
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Julia Reichenbac­her

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