Die unbekannte Seite der Harburg
Sie war Ferienkolonie, Wehrerziehungslager und Flüchtlingsunterkunft – ein Streifzug durch eine wechselvolle Periode
Harburg Wenn man an die Harburg denkt, fallen einem spontan Mittelalter und Barockzeit ein, doch hat die stattliche Burganlage auch in der Neuzeit ihre Geschichte. Nur wenigen ist bekannt, dass sie seit Ende des 19. Jahrhunderts als Ferienkolonie für städtische Kinder, während des Zweiten Weltkriegs als Wehrertüchtigungslager und nach seinem Ende als Flüchtlingsunterkunft diente.
Zu entdecken war diese unbekannte Seite nun bei Sonderführungen. Die Besucher gelangten bei der weitläufigen Tour über viele Treppen und Stiegen auch in Räume, die in einer „normalen“Burgführung nicht aufgesucht werden, beispielsweise die Wohnräume des ehemaligen Lager-Kommandanten hoch oben im Faulturm. Zu sehen bekamen die Interessierten außerdem zahlreiche ausgestellte Zeitdokumente sowie zum Abschluss einen Film, der den Schullandheimaufenthalt einer Bubenklasse auf der Harburg im Jahr 1939 dokumentierte.
Temperamentvoll und sachkundig geführt wurden die Teilnehmer von der Harburgerin Julia Reichenbacher, die „hauptberuflich“derzeit ihre Promotion in Strafrecht erstellt, aber zusammen mit dem Burgführerinnenteam das Programm der Sondertour erarbeitet hatte. Sie konnten sich neben dem Fürstlich Oettingen-Wallerstein’schen Archiv vor allem auf die ausführlichen Beiträge von Walter Link senior in den „Harburger Heften“1995 und 1996 stützen.
Die jüngere Geschichte der Harburg beginnt, als sich 1883 in Augsburg ein Verein „Ferien-Kolonien für Augsburg“bildete, um Stadtkindern Ferien auf dem Lande zu ermöglichen. Ein Komiteemitglied war der Harburger Fabrikbesitzer August Märker. Er verhandelte mit dem Burgherrn, Fürst Karl von Oettingen-Wallerstein, und sorgte dafür, dass seit 1892 die Harburg zur Ferienkolonie werden konnte.
Zunächst waren es reine Mädchengruppen, welche die ehemalige Försterwohnung in der Burgvogtei, die heutige Burgschenke, bezogen, aber bald kamen auch Jungen. Die Gruppenstärken betrugen 1908 jeweils 80 Buben beziehungsweise Mädchen. Für sie wurden das unte- re Stockwerk im Saalbau und das obere Stockwerk des ehemaligen Herrschaftsgerichts im Kastenhaus als Schlafräume hergerichtet sowie Küche und Speisesaal installiert.
Für die Harburger Bäcker, Metzger und Gärtner bedeutete die neue Nutzung der Burg einen Vorteil, denn sie belieferten das Ferienheim mit allem notwendigen Bedarf. August Märker kümmerte sich weiterhin intensiv um den Betrieb der Ferienkolonie, wie später auch sein Sohn Oskar.
Diese friedliche Nutzung setzte sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis weit in die 30er-Jahre fort; ab 1935 war die Harburg offiziell ein „Schullandheim“. Im Jahr 1938 hielten sich zum Beispiel neun Schulklassen und zwei Feriengruppen mit insgesamt 412 Jugendlichen durchschnittlich jeweils zwei Wochen dort auf.
Mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland 1933 setzte sich aber mehr und mehr eine ideologische und vormilitärische Gestaltung der Aufenthalte durch. Neben normalem Unterricht, Tisch- und Küchendiensten, Baden in der Wörnitz und Ausflügen nach Nördlingen gab es morgens und abends Fahnenappelle im Oberen Burghof, wurde in Reih und Glied ein- und ausmarschiert und wurden vormilitärische Geländespiele auf der nahen Heide veranstaltet.
Zunehmend präsent wurden Gruppen der Hitlerjugend und des BdM („Bund deutscher Mädel“). Ab April 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, übernahm die Hitlerjugend gänzlich das Kommando auf der Harburg durch die Einrichtung des sogenannten Wehrerziehungslagers. Dafür wurden nicht nur Burgvogtei, Kastenhaus, Saalbau und Fürstenbau in Beschlag genommen, sondern im Unteren Burghof das Amtshaus für eine „Mot.-Abteilung“mit Fahrschule sowie Ställe für die Pferde einer Reiterausbildungsgruppe. Monat für Monat konnten so rund 300 bis 400 junge Männer regelrecht kaserniert werden. Es handelte sich meist um 17-Jährige, den letzten Jahrgang der Hitlerjugend; durch militärischen Drill, Geländeübungen und Schießunterricht wurden sie auf die Grundausbildung in der Wehrmacht vorbereitet. Freigang gab es wegen der Fluchtgefahr nicht mehr. Ausbilder waren Offiziere und Soldaten aus Wehrmacht und Waffen-SS, die nicht mehr „kriegsverwendungsfähig“waren.
Sogar eine Erweiterung des „WE-Lagers“durch den Bau eines Barackenlagers auf dem Hühnerberg in der Nähe des jüdischen Friedhofs war geplant. Verhindert wurde dies durch die zunehmende Verschlechterung der Kriegslage für das Deutsche Reich; die jungen Burschen wurden nun zum Teil direkt aus dem Wehrerziehungslager an die Front, beispielsweise in der Normandie, geschickt. Beim Näherrücken der US-Truppen 1945 löste man das Lager auf und verlegte die Hitlerjungen nach Mindelheim, wo sie den „Volkssturm“, das letzte Aufgebot des Regimes, verstärken sollten. Dort setzten sich jedoch die Offiziere ab, und drei aus Harburg stammende Hitlerjungen kehrten zu Fuß zurück.
Weitere Gruppen von Menschen verschlug der Krieg zeitweise auf die Harburg: Eine Reihe von Kriegsgefangenen musste in der Bewirtschaftung des Lagers arbeiten. 1941 kamen Kinder aus Bremen und Emden im Rahmen der sogenannten „Kinderlandverschickung“, um sie in Sicherheit vor alliierten Luftangriffen zu bringen.
Außerdem bot die Harburg Flüchtlingen und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten von 1944 bis weit in die Nachkriegsjahre ein Dach über dem Kopf, wenn auch unter harten Wohn- und Lebensbedingungen und oft mit wenig Wohlwollen von den Einheimischen gesehen. Gedacht als Übergangslösung für zwei bis drei Monate, zog sich für manche der Aufenthalt zwei bis drei Jahre hin.
Hier schließt sich nun ein Kreis, denn wie zu Beginn der Ferienkolonie 1883 spielte die Familie Märker erneut eine positive Rolle: Sie bot den Neuankömmlingen Fürsorge und Arbeitsplätze in Steinbruch und Fabrik. So manche von ihnen blieben in Harburg und wurden mit ihren Familien bald selbst zu Einheimischen.