Weltmeister Deutschland
Vor fast genau 44 Jahren gewann eine DFB-Auswahl im Münchner Olympiastadion den zweiten WM-Titel. Sechs Spieler des FC Bayern haben die Elf geprägt. Einer von ihnen ganz besonders
Augsburg Wer in den 70er Jahren mit dem Fußball aufgewachsen ist, wird sich an diese eine Szene auch dann noch erinnern, wenn er das meiste andere schon vergessen hat.
München. Sonntag, 7. Juli 1974. Olympiastadion. Jene Arena unter dem Zeltdach, die zwei Jahre vorher den Olympischen Spielen eine glanzvolle Bühne geboten hatte. Auf der durch den Terror-Überfall auf das israelische Team aber bis heute ein Schatten liegt.
1974, im Finale der FußballWM, stehen sich zwei Großmächte gegenüber, die heute, 44 Jahre später, im Endspiel der WM in Russland keine Rolle spielen werden. Die Niederlande, die sich für 2018 nicht einmal qualifizieren konnten, und Deutschland, das sich zur Vorrunde verabschiedet hat.
Damals aber waren die beiden Nationalmannschaften zwei der Top-Teams des Weltfußballs. Die Deutschen mit ihrer Münchner Achse Maier–Beckenbauer–Müller, garniert mit den Aufsteigern Breitner und Hoeneß, abgesichert vom kernigen Schwarzenbeck. Die Holländer um ihre beiden Johans, Cruyff und Neeskens, Anführer eines Oranje-Ensembles, das noch leichtfüßiger, offensiver und kreativer als die Deutschen den Weg ins Finale genommen hatte.
Das Schöne: 34 Jahre, nachdem die Wehrmacht die Niederlande überfallen hatte, war es kein Kriegsspiel mehr.
Die Holländer gingen vom Anpfiff weg 1:0 in Führung. Berti Vogts, der spätere Bundes-Berti, vermochte Cruyff nicht zu halten, Hoeneß stoppte Hollands König Johan elfmeterreif und Neeskens drosch den Strafstoß derartig wuchtig ins Netz, dass man um Sepp Maier im deutschen Tor fürchten musste. Paul Breitner glich aus. Deutschland schöpfte Hoffnung und Deutschland hatte Gerd Müller. Diesen leicht quadratisch untersetzten Torjäger, den das Land damals noch ungeniert seinen „Bomber der Nation“nannte. Müller war 1964 aus Nördlingen zum FC Bayern gekommen. „Kleines dickes Müller, das nicht sehen kann Ball, wenn liegt unter Bauch“, hatte sein damaliger Trainer, der kugelige Tschik Cajkovski gefrotzelt. Das änderte sich schnell. Müller entwickelte sich in München zum erfolgreichsten deutschen Torjäger aller Zeiten. Seine Bestmarken stehen für die Ewigkeit.
Müller hat im Stehen, Sitzen und Liegen getroffen. Der einzige Spieler, dem die deutsche Sprache ein Verb – „müllern“– zu verdanken hat. Müller-Tore waren eine Kunstform. Minimalistisch und kleinräumig wie der ursprüngliche Lebensentwurf des gelernten Webers.
Und genau so haben jene, die damals als Heranwachsende alles aufgesogen haben, was sie sich heute keine Woche mehr merken können, diese Szene vom Nachmittag des 7. Juni 1974 in lebhafter Erinnerung. Müller nimmt den Ball mit dem Rücken zum holländischen Tor an, wie er das zigtausende Male getan hat. Oranje ist alarmiert. Ruud Krol grätscht heran. Müller dreht sich auf der Fläche eines Bierdeckels und trifft zum 2:1. 47 Minuten später ist Deutschland zum zweiten Mal nach 1954 Weltmeister.
Schwer zu sagen, ob sich Gerd Müller daran noch erinnert. Der 72-Jährige ist dement, leidet an Alzheimer. Seit zwei Jahren lebt er in einem Pflegeheim. In den 80er Jahren hat ihm der FC Bayern aus einer Alkoholabhängigkeit geholfen. Bis vor zwei Jahren war er Assistenztrainer. Die Fußball-Welt wird sich an ihn noch erinnern, wenn die meisten der WM-Helden von heute längst Vergangenheit sind.