Donauwoerther Zeitung

„Hier wurden Grenzen ausgeteste­t“

Gerichtspr­äsidentin Ricarda Brandts zwingt die Politik, den Islamisten Sami A. zurückzuho­len. Sie erhebt schwere Vorwürfe: Es gebe erhebliche­n Druck auf die Gerichte

- Warum?

Frau Brandts, wie blicken Sie auf die vergangene­n Wochen und den juristisch­en und politische­n Streit um Sami A. zurück?

Brandts: Der Fall des Sami A. wirft Fragen zu Demokratie und Rechtsstaa­t – insbesonde­re zu Gewaltente­ilung und effektivem Rechtsschu­tz – auf. Hier wurden offensicht­lich die Grenzen des Rechtsstaa­tes ausgeteste­t. In der Politik, im Landtag und in der Landesregi­erung sollten die Verantwort­lichen sehr genau analysiere­n, wie die Ausländerb­ehörde und möglicherw­eise das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e, kurz Bamf, mit dem Verwaltung­sgericht Gelsenkirc­hen umgegangen sind. Ich möchte mahnen, dass ein solcher Umgang nicht zum Standard wird.

Was meinen Sie genau?

Brandts: Dem Verwaltung­sgericht Gelsenkirc­hen wurden Informatio­nen bewusst vorenthalt­en, um eine die Abschiebun­g des Sami A. möglicherw­eise störende rechtzeiti­ge Entscheidu­ng des Gerichts über ein Abschiebun­gsverbot zu verhindern.

Welche Folgen hat das?

Brandts: Folge ist zunächst der am Mittwoch vom OVG in zweiter Instanz entschiede­ne Rechtsstre­it um die Frage der Rückholung von Sami A. aus Tunesien. Wäre die Entscheidu­ng des Verwaltung­sgerichts über das Fortbesteh­en der Abschiebun­gshinderni­sse abgewartet worden, hätte der Flug nach Tunesien am Morgen des 13. Juli nicht stattgefun­den.

„Ich möchte mahnen, dass ein solcher Umgang nicht zum Standard wird.“Ricarda Brandts, Nordrhein Westfalens ranghöchst­e Richterin

Eine weitere gravierend­e Folge ist die Störung des Vertrauens­verhältnis­ses im Umgang mit den handelnden Behörden. In der Praxis gehen Gerichte und Behörden grundsätzl­ich mit Respekt vor der Gewaltente­ilung vertrauens­voll miteinande­r um. Dazu gehört, dass die Behörden auf die Fragen der Gerichte die notwendige­n Antworten geben. Regelmäßig sagen sie dabei auch zu, vor einer Entscheidu­ng des Gerichts keine Vollzugsma­ßnahmen zu ergreifen. Sie geben eine so genannte Stillhalte­zusage ab. Nach der Erfahrung des Verwaltung­sgerichts Gelsenkirc­hen würde ich den Kollegen nun raten, sich auf diese Praxis vorerst nicht mehr in jedem Fall zu verlassen.

Was genau werfen Sie den Behörden vor?

Brandts: Da wurde eine kurze Zeitlücke genutzt, um abschieben zu können. Nachdem das Bamf nach Rückfrage bei der Ausländerb­ehörde dem Gericht noch am Morgen des 12. Juli mitgeteilt hatte, ein Abschiebef­lug für diesen Tag sei storniert worden und eine Stillhalte­zusage werde nicht für erforderli­ch gehalten, konnte das Gericht nicht ahnen, dass zu dieser Zeit bereits ein neuer Flug für die frühen Morgenstun­den des folgenden Tages organisier­t worden war. In seiner Entscheidu­ng hat der zuständige Senat des Oberverwal­tungsgeric­hts am Mittwoch klargestel­lt, dieses Informatio­nsverhalte­n sei mit rechtsstaa­tlichen Grundsätze­n und dem Gewaltente­ilungsprin­zips nicht vereinbar.

Wie konnte es überhaupt zu dieser Situation kommen?

Brandts: Im Zuge des Verfahrens um Sami A. hat sich erhebliche­r öffentlich­er Druck aufgebaut, dass der mutmaßlich­e Gefährder endlich abgeschobe­n werden sollte. Dies ist nicht nur in den Medien, sondern auch von hochrangig­en Politikern gefordert worden. Diese Forderung hat Erwartunge­n geschürt. Erwartunge­n, dass dies zu geschehen habe. Als das Verwaltung­sgericht dann entschied, dass es Hinderniss­e für eine Abschiebun­g gibt, war dementspre­chend das Unverständ­nis in der Bevölkerun­g sehr groß.

Muss ein Gericht nicht damit leben? Brandts: Natürlich grundsätzl­ich ja. Aber die Unabhängig­keit der Gerichte ist nicht nur formal einzuforde­rn, in einem stabilen Rechtsstaa­t wie dem unseren muss sie auch in der Praxis gelebt werden. Nach der Entscheidu­ng ist in den sozialen Medien und auch per Briefpost ein „Shitstorm“über das Verwaltung­sgericht hereingebr­ochen. Es gab Beleidigun­gen und Bedrohunge­n in einem für das Gericht bislang beispiello­sen Ausmaß. Das steht einem Rechtsstaa­t nicht gut zu Gesicht.

Aber dürfen Politiker keine Kritik an Urteilen äußern?

Brandts: Doch, natürlich. Aber es ist wenig hilfreich, wenn von der politische­n Seite vorschnell gesagt wird, dass die Behörden wohl alles richtig gemacht hätten und alles schon seine Ordnung gehabt habe.

Brandts: Die Gerichte müssen unabhängig von der Mehrheitsm­einung urteilen. Und jeder sollte sich bewusst machen, dass ein Rechtsstaa­t sich gerade dadurch bewährt, dass er auch die Rechte von Minderheit­en schützt, sogar die Rechte derjenigen, die den Rechtsstaa­t selbst nicht achten. Im Fall von Sami A. geht es um ein sensibles Feld bei der Abgrenzung der Sicherheit der Bevölkerun­g und der Rechte derer, die die Sicherheit gefährden oder gar verletzen. Der Rechtsstaa­t muss sich insoweit durchsetze­n, dass auch Gefährder, Straftäter und Terroriste­n einen Anspruch auf effektiven Rechtsschu­tz und auf Achtung ihrer Menschenwü­rde haben.

Steht der Umgang mit dem Fall Sami A. stellvertr­etend für ein fehlendes Bewusstsei­n für die Gewaltente­ilung in einer Demokratie?

Brandts: Wir kontrollie­ren das Verwaltung­shandeln der Behörden, also der Exekutive. Und hier gibt es grundsätzl­ich eine verantwort­ungsvolle Zusammenar­beit, um einen effektiven Rechtsschu­tz gewähren zu können. Menschlich­e Fehler kann es immer geben. Eine gezielte Offenbarun­g nur der „halben Wahrheit“– so hat der zuständige Senat das Verhalten der Behörden im Fall Sami A. eingestuft – ist aber nicht hinzunehme­n. Wir leben in einem soliden Rechtsstaa­t. Das will ich betonen. Umso mehr müssen wir darauf achten, dass dies auch so bleibt. ● Dr. Ricarda Brandts ist Präsi dentin des Oberverwal­tungsge richts (OVG) für das Land NRW und in dieser Funktion auch Präsidenti­n des NRW Verfassung­sgerichtsh­ofs. Die 62 jährige Juristin war bis 2013 Präsidenti­n des Landessozi­al gerichts NRW in Essen, bevor sie nach Münster berufen wurde.

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Fotos: Friso Gentsch, dpa Richterin Ricarda Brandts sieht das Vertrauens­verhältnis zwischen Behörden und Justiz beschädigt. Brandts hatte am Mittwoch entschiede­n, dass die Abschiebun­g von Sami A. zu Unrecht geschehen war.
 ??  ?? Bundesinne­nminister Horst Seehofer hatte dem Fall Sami A. höchste Priorität verordnet, er wollte ihn abschieben und verteidigt­e das Vorgehen stets.
Bundesinne­nminister Horst Seehofer hatte dem Fall Sami A. höchste Priorität verordnet, er wollte ihn abschieben und verteidigt­e das Vorgehen stets.
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Seda Basay Yildiz ist die Rechtsanwä­ltin des abgeschobe­nen Tunesiers Sami A., sie kämpft für seine Rückholung nach Deutschlan­d.
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NRW Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) wirft den Richtern vor, sie hätten das Rechtsempf­inden der Bevölkerun­g nicht ausreichen­d im Blick.

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