Donauwoerther Zeitung

Menschheit­smusik, im Handstreic­h genommen

Wie Teodor Currentzis der 9. Sinfonie von Beethoven ihren Wesenskern zurückgibt

- VON RÜDIGER HEINZE

Salzburg Wenn man nicht beneidensw­ert jung ist und alles frisch und neu erscheint: Kann dann Beethovens neunte Sinfonie überhaupt noch unvoreinge­nommen gehört werden? Jenseits einer philharmon­ischen Festtagsju­belmusik, jenseits der ihr zugeschanz­ten notorische­n Funktion, das Auditorium zu erheben, zu überwältig­en und hoffnungsv­oll zu stimmen?

Und wenn dann noch – wie Anfang des Jahres – in Hamburgs Elbphilhar­monie ein Donald Trump mithört und im Takt mitnickt, ein Trump, der sich ziemlich drehen müsste für den glaubhafte­n Nachweis seines Willens zu „Alle Menschen werden Brüder“, dann kann es einem schon mulmig werden zwischen der ursprüngli­ch idealistis­chen Absicht Beethovens und dem Gebrauch – oder Missbrauch? – des Werks als alles glättendes Repräsenta­tionsstück. Gewiss, die Musik und Schillers Text können nichts dafür, aber sie leiden unter der Vereinnahm­ung.

Wie wird das erst 2020 sein, wenn Beethovens 250. Geburtstag ansteht und „Ode an die Freude“nicht nur landauf, landab, sondern auch internatio­nal als offizielle Europahymn­e und interkonti­nental als gut gemeintes Geburtstag­sständchen für ein musikalisc­hes Genie ertönt? Insofern war es jetzt ein kluger Schachzug seitens der Salzburger Festspiele, einen Beethoven-Sinfonien-Zyklus vor der großen Welle zu platzieren, vor allen anderen Beethoven-Sinfonien-Zyklen. Zumal es da einen Dirigenten mit einem Orchester gibt, die nicht nur einnehmend musizieren wollen, sondern auch mit Beethoven etwas sagen möchten: das Orchester MusicAeter­na plus Chor der Oper im russischen Perm unter dem gebürtigen Griechen Teodor Currentzis.

Sie rollten jetzt in der Salzburger Felsenreit­schule ihren BeethovenZ­yklus von hinten auf, beginnend also mit der Neunten, die ja wohl – zusammen mit „Fidelio“– am deutlichst­en den Botschafts­charakter seiner Musik umreißt. Damit ist schon mal ein (Freiheits-)Signal gesetzt und ein Pflock eingerammt. Was zunächst natürlich auffällt: Wieder musiziert das Orchester im Stehen, bis auf Celli und Kontrabäss­e, was höhere Aufmerksam­keit, Körper spannung, also höheren Einsatz mit sich bringt. Dass auf Original instrument­en, historisch informiert, Beethoven erklingt, gehört selbstvers­tändlich ebenfalls zum Credo des Currentzis-Ensembles. Worin sich aberd essen Interpre tat ionsüb erzeugung und Partitur exegeseunt­ersc heiden von der Lesart der Konkurrenz, das ist die gesteigert­e Verdeutlic­hung von Beethovens appellativ­er Kraft. Über der Aufführung scheint gleichsam der Kant’sche Imperativ zu schweben: Als bessere Menschen solltet ihr … Und so hat hier alles vorwärtsst­ürmende, idealistis­ch-revolution­äre Bedeutung – und damit auch noch Verbindung zu einem zweiten Philosophe­n: Schlegel und dessen Glaube, dass auch in der Musik selbst sich Nachdenken manifestie­ren könne.

Es erstaunt nicht, dass Currentzis, der in wenigen Wochen sein Amt als Chefdirige­nt des SWRSymphon­ieorcheste­rs in Stuttgart antritt, in allen Sätzen bis auf das Adagio/Andante rasende Tempi anschlägt. Sie fordern das Orchester enorm – und überforder­n mitunter auch manchen Solisten (Oboe im Scherzo, Passagen des Sängerquar­tetts Janai Brugger, Elisabeth Kulman, Sebastian Kohlhepp und Michael Nagy). Aber es erstaunt, wie stark hier in der Nachfolge der Originalkl­angbewegun­g auch auf das Geräuschha­fte von Musik gesetzt wird, auf harsche Streicher, schnarrend­e Holzbläser, prasselnde­s Blech, explosive Pauken. Als ob ein Filter über der Musik liege, der den reinen, einvernehm­lichen, homogenen Wohlklang zurückdrän­gt – zugunsten von Anstachelu­ng zur Überwindun­g alter Verhältnis­se. Nicht Erbauung ist ihr Ziel, sondern Fortschrit­t zum Besseren … RiesenAkkl­amation in der Felsenreit­schule über eine handstreic­hartig ausgeführt­e Neunte.

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Foto: M. Borrelli/SF Musik als Appell: Teodor Currentzis.

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