Frankreich ist für Kroos kein Vorbild
Bundestrainer Löw rühmt den Weltmeister und will vor dem Duell dessen Tugenden übernehmen. Sein Führungsspieler dagegen orientiert sich nicht am neuen Titelträger
München Kurz vor Ende gab es noch etwas zu lachen. In der Pressekonferenz vor dem Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich (heute, 20.45 Uhr/ZDF) meldete sich ein niederländischer Journalist. Tenor: Die deutsche Mannschaft möge sich zwar nach der Bruchlandung bei der WM in einer Krise befinden, aber die Fachleute für echte Fußball-Katastrophen seien derzeit ja wohl die Niederländer, die sich zuletzt zweimal in Folge nicht für ein Turnier qualifizieren konnten. Wie praktisch, dass beide Teams Mitte Oktober in der Nations League aufeinandertreffen und dann ermitteln können, wer tiefer in der Tinte steckt.
Joachim Löw lächelte tapfer mit – auf ein derartiges Krisentreffen kann der Bundestrainer aber wohl nur zu gerne verzichten. Aus gegebenem Anlass sprach Löw kurz vor der Begegnung ohnehin lieber über die französische Auswahl – und geriet dabei ins Schwärmen. „Die Franzosen haben völlig verdient die WM gewonnen, sie waren die beste Mannschaft. Sie haben eine starke Defensive, eine starke Offensive und im Umschaltspiel nach vorne schnelle Spieler, die in die Tiefe gehen können.“Es schien, als ob Löw damit auch indirekt über sein eigenes Team sprach. Denn nahezu alle Tugenden, die er am neuen Weltmeister hervorhob, hatte seine eigene Mannschaft bei der WM nur bedingt bis gar nicht gezeigt.
Die Spielweise Frankreichs gilt Löw nun als Vorbild für den Neuaufbau: Weniger Risiko im Spiel nach vorne, die bislang stürmischen Außenverteidiger sollen weniger offensiv spielen. Dafür soll das eigene Tor „auf Teufel komm raus“verteidigt werden. Die Balance zwischen den Mannschaftsteilen soll besser stimmen – wie beim Weltmeister eben. Auch wenn Ballbesitz weiterhin angesagt ist in der DFB-Auswahl.
Einer von Löws Führungsspielern will dem Vorbild Frankreich aber nur bedingt folgen. Für Toni Kroos taugt der aktuelle Titelträger nicht als Vorbild, wie er betonte: „Wir müssen einen anderen Fußball spielen als Frankreich.“Warum – das erklärte er im Hinblick auf den Kader der deutschen Nationalmannschaft: „Wir haben weiterhin Spieler, die gerne den Ball haben wollen.“
Die Franzosen hätten hingegen die „aus nichts ein Tor machen können“. Im Detail dürfte Kroos an die herausragenden Kylian Mbappé oder Antoine Griezmann denken, die mit ihrer Schnelligkeit und individuellen Klasse herausragen.
Dass Deutschland noch keinen Mbappé habe, sei seiner Meinung nach auch kein Problem: „Wir dürfen nichts kopieren, sondern müssen unseren eigenen Weg gehen.“Die Einzelspieler dazu habe auch die DFB-Auswahl: „Unsere Spieler nehmen in ihren Klubs eine wichtige Rolle ein.“
Leroy Sané könnte einer sein, auf den es in Zukunft ankommt. Der Jungstar von Manchester City hat aber derzeit Probleme, im eigenen Klub Fuß zu fassen, und fehlte zuletzt im City-Kader. Kroos verteilte Lob und Tadel an ihn: „Grundsätzlich ist er ein Spieler, der alles mitSpieler, bringt, um absolute Weltklasse zu werden. Man hat aber das Gefühl, dass er gesagt bekommen muss, was zu tun ist, um das zu werden.“Ein Faktor war Sané in der Nationalelf bislang noch nicht: In seinen bisher elf Länderspielen blieb der Hochgelobte fast immer wirkungslos.
Es ist noch nicht so lange her, dass Kroos die lasche Einstellung Sanés öffentlich kritisiert hatte, auch wenn er dessen Namen nicht nannte. Nach dem 0:1 gegen Brasilien im März hatte der Real-Star moniert: „Einige hatten die Chance, sich zu zeigen, aber das haben sie nicht getan.“Zu dieser Kritik stehe er auch heute noch, sagte Kroos: „Es fehlte an vielem, zum Beispiel an der Körpersprache.“Bundestrainer Löw hatte sich damals entspannt gegeben. Er wisse, zu welchen Leistungen die Mannschaft imstande sei und welche Mentalität sie habe. Sorgen mache er sich keine. Eine grandiose Fehleinschätzung, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte.
„Ich hätte mir gewünscht, ich hätte nicht recht gehabt“, sagte Kroos an diesem Mittwoch im September. Gegen Frankreich könne man aber nun zeigen, dass man immer noch zu dem Kreis der TopTeams gehöre. Der Mittelfeldspieler zeigte sich zuversichtlich, dass dieser Beweis heute Abend erbracht wird: „Die bisherigen Trainingseinheiten waren richtig gut. Ich hatte absolut das Gefühl, dass jeder wieder da ist.“
Joachim Löw strahlte gestern betonte Zuversicht aus. Ob das wirklich etwas heißen muss? Zuversichtlich hatte sich der Bundestrainer schließlich auch vor der verkorksten WM gezeigt. sich so den Ehrentitel Terrier verdiente, schaffte es Stürmer Jogi mit vielen Toren zwar zu Zweitliga-Ehren, aber nur zu bedingter Bundesliga-Reife. Als Nationaltrainer setzte sich der Kontrast fort: Vogts rumpelte sich zwar zum EM-Titel 1996, stand aber fast während seiner gesamten DFB-Zeit in der Kritik. Jogis offensiver BallbesitzFußball mündete stets mindestens ins Halbfinale eines Turniers und brachte 2014 sogar den WM-Titel. Böser Berti, lieber Jogi? So war es bislang vielleicht.
Mittlerweile stellen sich erste Parallelen ein. Löw dürfte nun eine Vorstellung dessen bekommen, wie es sich anfühlt, Berti zu sein. Nach dem WM-Debakel mehren sich die kritischen Stimmen gegen ihn – und wie bei Vogts gleiten sie zunehmend ins Persönliche ab. Löw kündigte nach der WM-Blamage einen Paradigmenwechsel an. Er nahm Abstand von seiner Idee des Ballbesitz-Fußball, fordert nun mehr Disziplin ein.
So war es auch bei Vogts, der nach der WM 1998 so schwer in der Kritik stand wie noch niemals zuvor. Im Viertelfinale der WM in Frankreich war Deutschland mit einer in die Jahre gekommenen Truppe von Kroatien mit 0:3 vermöbelt worden. Zur Überraschung vieler Beobachter machte Vogts danach weiter und sprang über seinen Schatten: Bayern-Star Stefan Effenberg, nach seiner Stinkefinger-Affäre 1994 eine Persona non grata beim DFB, wurde zum Comeback überredet. Es war eine kurze Rückkehr: Gegen den Fußballzwerg Malta gelang im September ein 2:1-Sieg, gegen Rumänien nur ein 1:1. Es waren auch die letzten beiden Spiele von Berti Vogts als Nationaltrainer. Er trat zurück.
20 Jahre später ist die Konstellation für Jogi Löw ähnlich: Gegen Frankreich am Donnerstag und Peru am Sonntag wird er nicht nur an den Ergebnissen gemessen werden. Sollte die Nationalmannschaft ähnlich lethargisch über den Rasen schlurfen wie bei der WM in Russland, könnte es zum ersten Mal eine Parallele zwischen Vogts und Löw geben und Jogi muss sich eingestehen, statt eines Neuanfangs eine Bauchlandung hingelegt zu haben.
Wenn Löws Neustart tatsächlich nur ein „Weiter so“mit minimalen Änderungen sein sollte, eint die beiden Trainer bald mehr, als Löw lieb sein dürfte.