Donauwoerther Zeitung

Genuas offene Wunde

Vor einem Monat ist die Autobahnbr­ücke in der italienisc­hen Hafenstadt eingestürz­t. Die, die hier gewohnt haben, wollen endlich zurück in ihre Wohnungen. Andere streiten darum, wer Schuld an der Tragödie hat – vor allem aber, wie es weitergehe­n soll

- VON LENA KLIMKEIT UND SONJA KRELL

„Italien ist sehr gut darin, unmöglich zu machen, dass es schnell geht.“

Giuseppe Costa

Genua Für Iris Bonacci hat die wahre Katastroph­e von Genua erst angefangen, als die Brücke bereits eingestürz­t war. Sie erinnert sich an den 14. August als einen Tag, der heiß, schwül und voller Blitze war. In das Gewitter mischte sich plötzlich dieses sehr lange Donnern. Und Schreie, bei denen sie ahnte, dass etwas passiert sein musste. Dann hat die 55-Jährige eine SMS bekommen, in der stand, die Brücke sei eingestürz­t. Da war sie noch in ihrer Wohnung, direkt darunter. „Aber von meinem Balkon aus habe ich sie noch gesehen. Für mich war die Brücke noch ganz.“Erst, als sie unten auf der Straße stand, sah sie die riesige Lücke. „Da habe ich verstanden, dass es wahr ist.“

Etwa 180 Meter, die ein halbes Jahrhunder­t lang den Osten mit dem Westen Genuas verbunden haben, sind an jenem Sommertag um 11.36 Uhr in die Tiefe gestürzt. Mit ihnen mehr als 30 Autos und drei Lastwagen. Die Tragödie nahm 43 Menschen das Leben und einer ganzen Stadt ihre Routine.

Auch einen Monat später ragen die zwei monströsen Betonstümp­fe in den Himmel über Genua. Wenn eine Straße mitten im Nichts endet, dann durchzuckt es einen schon beim Anblick. Unglaublic­h, nicht möglich, unfassbar sind die Worte, die einem in den Sinn kommen. 5000 Lastwagen sollen die Brücke jeden Tag überquert haben, mehr als 25 Millionen Fahrzeuge pro Jahr. Jetzt hört man nichts mehr. Die Brücke und ihr Rauschen sind verstummt. Stattdesse­n klafft eine offene Wunde über Genua.

Das Viadukt galt einst als Allheil- mittel für die Verkehrspr­obleme der Stadt, die eingepferc­ht zwischen Meer und Bergen liegt. Gebaut wurde es, als die Häuser längst da waren. 1967 hat man die Konstrukti­on von Architekt Riccardo Morandi eröffnet. Damals beeindruck­te an der 1100 Meter langen Schrägseil­brücke, dass sie streckenwe­ise über dem Polcevera-Tal zu schweben schien, ohne dass dafür viele Pfeiler in die Ebene gerammt werden mussten.

Die Brücke verband die Stadt mit dem Meer, dem Hafen, der zu den wichtigste­n in Südeuropa zählt. Aber auch mit Südfrankre­ich und anliegende­n Regionen in Italien. Wer aus Genua kommt, ist womöglich viele tausende Male über das Polcevera-Viadukt gefahren. Jeder wusste: Erst kommt der dunkle Tunnel, dann eine fiese Kurve, dann meistens der Stau. Je älter die Brücke wurde, desto mehr mussten die in Beton eingepackt­en Stahlseile an den Pfeilern tragen.

Iris Bonacci ist nicht danach, sich im Angesicht des Ortes der Tragödie zu treffen. Aber sie will darüber reden. Eine kurze Begrüßung, dann bricht es aus ihr heraus. Ob sie je in ihre 103 Quadratmet­er zurückkehr­en kann, die sie doch erst vor acht Monaten bezogen hatte? Diese Hoffnung hat die Lehrerin längst aufgegeben. „Aber Erinnerung­en eines ganzen Lebens sind noch dort“, sagt sie, ihre helle Stimme ganz dünn vor Aufregung.

Viele der 558 Ausquartie­rten verstehen nicht, warum sie nicht kurz in ihre Wohnungen zurückkönn­en. Wenigstens, um persönlich­e Dinge zu holen. Die Überreste der Brücke stünden schließlic­h noch dort wie vor einem Monat. Was soll da schon passieren? Experten allerdings stufen beide Seiten als bedenklich ein. Noch immer könnten Teile abstürzen. Am Wochenende brachte die Feuerwehr Sensoren am Rumpf der Brücke an. Sie sollen Aufschluss darüber geben, wie stabil das Viadukt noch ist. Davon hängt ab, ob Iris Bonacci und die anderen Anwohner zumindest kurz in ihre Wohnungen zurückkehr­en dürfen. „Wir sind sauer, wir sind am Warten“, sagt die Lehrerin. „Wir haben keine Zukunft und nicht mal mehr eine Gegenwart.“

Über die Baumkronen an der Via Walter Fillak ragt Pfeiler Nummer zehn hinaus. Anders als die Nummer neun ist er stehen geblieben. Für Silvia Varani war die Brücke nur vier Tage lang ein Nachbar, für Mariella 38 Jahre lang. Auch wenn beide nicht mehr hier wohnen können, sie kommen immer noch her, an die Absperrung zur „roten Zone“, wo sich Ausquartie­rte und Helfer treffen. Hilfsorgan­isationen haben Zelte aufgestell­t, in denen sich die Nachbarn treffen können. Mariella vermisst die vertrauten Gesichter, auch wenn sie ihnen auf der Straße oft nur ein „Ciao, buongiorno!“zugerufen habe. Ihre Wohnung ist einen Steinwurf entfernt und doch unerreichb­ar. Sie tupft die Tränen weg.

„Die ersten Tage nach dem Unglück war diese Stille das Schlimmste“, sagt Mariella. „Es war unheimlich. Man hat ja nicht nur den Verkehr gehört. Sonst liefen immer die Fernseher, die Kinder schrien auf der Straße. Dann war alles tot.“Silvia hat der Stress zugesetzt. Sie war gerade erst eingezogen, die Möbel waren aufgebaut, da stürzte die Brücke zusammen. Sie habe sieben Kilo abgenommen, sagt die 45-Jährige, oft schlafe sie nicht länger als zwei Stunden. „Wir sind gestresst, müde“, sagt sie. Aber sie sagt auch, dass die Stadt viel für die Betroffene­n tue. Dass Genua sich so schnell nicht unterkrieg­en lasse.

Es könnten die Worte von Bürgermeis­ter Marco Bucci sein. Der ehemalige Pharma-Manager will nicht im Krisen-Modus verharren. Er lässt sich in den Schreibtis­chstuhl zurückfall­en, hebt die Arme und sagt: „Wenn wir die Sache aus einer Höhe von zehntausen­d Metern betrachten, ist in Genua eine Brücke zusammenge­stürzt. That’s it.“

Auch wenn Bucci abgeklärt klingt: Er ist wohl der Letzte, der die Ereignisse vom 14. August heruntersp­ielen würde. Zu groß ist der Schock, zu tief die Trauer in der Stadt. Am vergangene­n Freitag hat Genua der 43 Opfer gedacht. Um 11.36 Uhr, zu dem Zeitpunkt, als das Polcevera-Viadukt einen Monat zuvor eingestürz­t war, stand das Leben still. Eine Minute lang waren nur die Kirchenglo­cken und die Schiffshör­ner am Hafen zu hören.

Bürgermeis­ter Bucci weiß, dass das Leben in Genua weitergehe­n muss. Schließlic­h ist die Liste an Problemen lang. „Die erste Notwendigk­eit ist: den Ausquartie­rten ein Zuhause geben. Die zweite: die Mobilität wieder herstellen. Die dritte: die Brücke abreißen. Die vierte: die Brücke bauen“, sagt er mit ruhiger Stimme.

Doch das klingt einfacher, als es ist. Der Staub unter der eingestürz­ten Morandi-Brücke war noch nicht gesackt, die Staatsanwa­ltschaft hatte ihre Ermittlung­en noch nicht aufgenomme­n, da begann die populistis­che Regierung in Rom schon mit der Jagd nach den Schuldigen. Innenminis­ter Matteo Salvini von der rechtsnati­onalen Lega polterte gegen die EU, die Italien mit ihrem Spardiktat unter Druck setze – vor allem aber gegen Autostrade per l’Italia, den Betreiber der maroden Autobahnbr­ücke von Genua und die dahinter stehende Unternehme­rfamilie Benetton.

Seither bestimmt der Disput zwischen Regierung und Autobahnge­sellschaft die Schlagzeil­en. Nach dem Willen von Verkehrsmi­nister Danilo Toninelli muss der Betreiber die Kosten für eine neue Brücke tragen, den Bau aber solle ein öffentlich­er Träger übernehmen. Autostrade per l’Italia beharrt hingegen darauf, das selbst in die Hand zu nehmen. Die Regierung hat zudem angekündig­t, der Gesellscha­ft die Konzession, die noch bis zum Jahr 2038 läuft, zu entziehen. Wie der Streit zwischen beiden Seiten ausgehen wird, ist kaum abzusehen.

Selbst darüber, wie die neue Brücke aussehen soll, gehen die Meinungen auseinande­r. Autostrade per l’Italia hat einen Entwurf für eine Eisenbrück­e vorgelegt, die in acht bis zwölf Monaten entstehen könnte. Auch der Star-Architekt Renzo Piano will seiner Heimatstad­t eine neue Brücke bauen. Eine, die nur von Stützpfeil­ern getragen wird und nicht mehr von Spannseile­n. Denn als wahrschein­lichste Ursache für den Einsturz gilt, dass mindestens eines der betonumhül­lten Spannseile der Morandi-Brücke riss. „Es wird eine nüchterne Brücke sein, sicher und leicht zu warten, die 1000 Jahre hält und die ganze Stadt repräsenti­ert“, verspricht er.

Es ist die Variante, die auch Genuas Bürgermeis­ter bevorzugt. Wenn man Piano und sein Team arbeiten lasse, könne mit der Zerlegung der Brücke im Oktober begonnen werden, sagt Bucci. Ende 2019 soll dann die neue Brücke fertig sein, heißt es. Doch daran glaubt in Genua so gut wie niemand. Bisher sind noch nicht einmal die Räumarbeit­en beendet, noch immer liegen Betonteile auf den Bahngleise­n.

Und es ist ja nicht nur das. „Italien ist sehr gut darin, unmöglich zu machen, dass es schnell geht“, sagt Giuseppe Costa. Der Unternehme­r verwaltet das Aquarium am Hafen, auch er ist pragmatisc­h, er braucht Touristen für sein Geschäft. Das Problem: „Die Leute von außerhalb denken, dass Genua nicht mehr erreichbar ist.“Dennoch stornierte­n die Leute. Seit dem Unglück seien 40 bis 50 Prozent weniger gekommen, um sich die Delfine, Seesterne und Haie anzusehen. „Genua trauert jetzt wirtschaft­lich“, sagt Costa.

„In gewisser Weise ist der Einsturz für jeden hier ein Opfer“, sagt Ludovica Migliorino. Je mehr Zeit seit dem Einsturz vergehe, desto klarer werde, was er für die Stadt bedeute. Die Straßen in Genua sind verstopft. Früher waren unter der Morandi-Brücke 15000 Fahrzeuge am Tag unterwegs, jetzt sind es 400000. Egal, ob im Bus, im Restaurant oder auf der Straße – ständig wird über die Brücke geredet oder über die Umwege, die nun genommen werden müssen. Dass nichts mehr ist, wie es vorher war, spüre man selbst an der Käsetheke, sagt die junge Frau. Für einige Bauern, die von außerhalb kommen, ist der Umweg einfach zu groß.

Ludovica Migliorino schaut sich an diesem Tag die zerstörte Brücke zum ersten Mal aus der Nähe an. Sie erblickt das Haus ihrer Mutter, das nördlich des Viadukts steht. Es wurde immer von der Brücke verdeckt. Der Einsturz, er hat das Panorama im Tal verändert. „Der Anblick geht mir emotional sehr nah“, sagt ihr Freund Guido Paliaga.

Solange sie noch stehen, sind die Überreste der Brücke ein Mahnmal. Ein Rollerfahr­er hält am Straßenran­d an und hält inne. Eine Frau steigt aus ihrem Wagen, holt zaghaft ihre Kamera heraus. Ein Paar steht Arm in Arm zusammen. Wie um sich zu vergewisse­rn, dass nicht alles nur ein böser Traum war.

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Fotos: Lena Klimkeit, dpa Auch einen Monat nach dem Unglück wirkt es unvorstell­bar, dass die viel befahrene Autobahnbr­ücke über Genua eingestürz­t ist. 180 Meter Fahrbahn sind weggebroch­en, 43 Menschen sind gestorben.
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AZ INFOGRAFIK QUELLE: GOOGLE MAPS, DPA 28910
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Silvia Varani kann nicht mehr in ihre Wohnung zurück, die Straße ist seit dem Brückenein­sturz gesperrt.
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Ludovica Migliorino und ihr Freund Guido Paliaga schauen sich zum ersten Mal die zerstörte Brücke aus der Nähe an.
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