Saufen als Lebensinhalt
Nächste Runde im Prozess wegen versuchtem Totschlag
Augsburg/Nördlingen Claudio E.* saß stillschweigend auf der Anklagebank. Sein Blick wirkte leer. Immer wieder schaute er zur Richterin, blinzelte und starrte wieder eine Weile auf seine Oberschenkel. Während der zweistündigen Verhandlung zeigte der Angeklagte keine Regung. Nur am Ende des Prozesstages am Landgericht Augsburg, indem sich der 27-Jährige wegen versuchten Totschlags, möglicherweise auch wegen versuchten Mordes, verantworten musste, ergriff er das Wort. Stotternd sagte er: „Es tut mir leid. Ich wollte ihn nicht töten.“
Was war passiert? Im Mai 2017 eskalierte ein Streit vor einer Nördlinger Bar. Claudio E.* traf sich an dem Abend zunächst mit seinem Kumpel, dem Opfer – laut der Anwältin des Angeklagten – Marion Zech, sein einziger Freund. E. und sein Kumpel tranken Wodka und amüsierten sich später in dem Lokal. Beide flirteten mit einer damals 18-Jährigen. Deshalb kam es vor der Bar zu einem Gerangel der beiden Männer. Als das Opfer Claudio E. zu Boden stieß, zückte der Angeklagte ein Taschenmesser und ging auf seinen Kumpel los. Die Folge: zwei oberflächliche Schnitte am Hals. Ein Barkeeper verhinderte Schlimmeres.
Am letzten Verhandlungstag vor der Urteilsverkündung rekonstruierte zunächst ein Sachverständiger der Polizei anhand der Zeugenaussagen den Abend. Dann sprach Psychiater Oliver Kistner über die Persönlichkeit des Angeklagten. Claudio E.* habe unter einem dominanten Vater gelitten, der die Mutter des Angeklagten misshandelt habe. Schon als Teenager habe Claudio E. versucht, die Probleme im Elternhaus in Alkohol zu ertränken. Wegen des Konsums sei er immer wieder in Schlägereien verwickelt gewesen, seine letzte Freundin verließ ihn deshalb. In der Verhandlung sprach Kistner von mindestens sechs Bier und einer halben Flasche Whisky, die der Angeklagte an einem Wochenende trank. Weiter sagte er, dass der 27-Jährige nicht fähig sei, alleine zu leben. Außerdem habe Claudio E.* keine Hobbys, sein ganzes Leben sei nur auf das Komasaufen am Wochenende ausgelegt. Das habe bereits zu einer einschlägigen Vorstrafe geführt. Damals verletzte Claudio E. im „Alkoholrausch“einen Mann mit einer Glasscherbe.
Kistner schätzte den Intelligenzquotienten des Angeklagten zwischen 80 und 90 ein. „Damit ist er gerade noch im Normbereich.“Beruflich und schulisch sei er schnell überfordert, daher bliebe dem 27-Jährigen immer nur die Rolle des Agierenden. Er habe nicht den Glauben daran, etwas aus eigener Kraft erreichen zu können, sagte Kistner. Dennoch glaubte, der Psychiater, dass dem Angeklagten mit einer zwei Jahre andauernden Therapie geholfen werden könne.
Das berücksichtigte die Staatsanwältin Martina Neuhierl in ihrem Plädoyer. Sie habe aber keine Zweifel daran, dass der Angeklagte den Geschädigten lebensgefährlich hätte verletzen können. Allerdings sprach sie von einem versuchten Totschlag mit gefährlicher Körperverletzung. Vom Strafbestand des versuchten Mordes rückte sie ab. Da der Angeklagte bereits einschlägig vorbestraft sei, sah sie Gefahren für weitere Straftaten und forderte deshalb eine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren – davon zwei Jahre in einer Erziehungsanstalt, um die Therapie zu absolvieren.
Anwältin Marion Zech stellte die Freundschaft des Opfers und des Täters in den Mittelpunkt. Es sei sein einziger Freund gewesen, da habe er sich Respekt verschaffen, ihn aber nicht umbringen wollen. Sie forderte eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung.
Das Urteil ist für Freitag, 21. September, vorgesehen. (juwue) *Name von der Redaktion geändert