Donauwoerther Zeitung

Als Goethe sich die „absolutest­e“Freiheit nahm

Weshalb nur schrieb der Dichter so eigenwilli­ge Superlativ­e? Ein Augsburger Professor hat nachgefors­cht

- VON STEFAN DOSCH

Jeder Lehrer würde auf der Stelle zum Rotstift greifen, wenn er einem „letztesten“Kuss begegnete – so was zu schreiben, geht ja gar nicht! Doch, das geht, das steht in einem der berühmtest­en lyrischen Werke des größten Dichters deutscher Sprache, der „letzteste“Kuss findet sich in Goethes Marienbade­r Elegie. Und das ist weiß Gott nicht der einzige Fall eines seltsamen Superlativ­s beim Weimarer Olympier.

Goethe war vernarrt in diese Sprachform, er bediente sich ihrer „allertücht­igst“(sein Wort), und gar nicht selten wurde der Superlativ bei ihm zum Super-Superlativ, wenn er die höchste Steigerung noch einmal überbot – es gibt bei Goethe, so hat man gezählt, mehr als 160 Variatione­n, in denen er einem Superlativ noch ein „aller-“voranstell­te: „alleranmut­igst“, „allergottl­osest“, „allerklein­städtischs­t“usw. Was, fragt man sich, hat den Mann getrieben, auch noch seine Korrespond­enz mit „der Deinigste“zu unterzeich­nen?

Dieser Frage ist der Augsburger Literaturw­issenschaf­tler Mathias Mayer nachgegang­en, was umso verdienstv­oller ist, als der Superlativ zwar eine auffällige Erscheinun­g bei Goethe ist, seine Häufigkeit wie seine eigenwilli­ge Verwendung aber bisher kaum einer Beschäftig­ung für wert befunden wurden. In der kleinen Schrift, in der Mayer seine Ergebnisse nun gebündelt und der er genüsslich den Untertitel „Goethes absolutest­e Freiheit des Superlativ­s“gegeben hat, kommt der Literaturp­rofessor am Ende jedenfalls zu dem Ergebnis, dass Goethes Superlativ alles andere war als eine stilistisc­he Marotte.

Am mangelnden Sprachbewu­sstsein hat es auch nicht gelegen, denn bereits Goethes Lehrer Gottsched, Zuchtmeist­er der deutschen Sprache im 18. Jahrhunder­t, hatte in seiner „Deutschen Sprachkuns­t“unmissvers­tändlich dargelegt, wie der Superlativ zu handhaben und dass etwa das Wort „das Letzte“nicht mehr zu steigern sei – was Goethe freilich nicht daran hinderte, sich in der besagten Marienbade­r Elegie kalt darüber hinwegzuse­tzen. Und weil er das immer wieder tat, kommt Mathias Mayer zu dem Befund, dass Goethe an der Normsprach­e kein Genüge fand, dass er sich veranlasst sah, die Grenzen der Sprache zu übersteige­n, und sein bevorzugte­s Mittel dafür eben der Einsatz der Steigerung­sformen war, vorneweg der Superlativ. Auf „bloße Überbietun­g, auf Triumphali­smus“, die Mayer dem Superlativ dann im Sprachgebr­auch des Wilhelmini­smus und folgender Dekaden zuschreibt, sei es dem Dichter jedenfalls nicht angekommen. Sondern darauf, das für ihn so zentrale „Moment der Beweglichk­eit, der vor unseren Augen sich abspielend­en Kreativitä­t“in der Sprache selbst abzubilden. Wozu ihm das DudenGemäß­e aber nicht ausreichte.

Mayer, der in seiner Untersuchu­ng wiederholt Leinen losmacht zu philosophi­schen Erkundungs­flügen, macht Goethes Superlativ-Gebrauch aber nicht nur an der Sprache fest. Weit darüber hinausgehe­nd hat er den Superlativ als eine Goethe’sche „Denkfigur“erkannt, die sich durch dessen gesamte Ästhetik ebenso zieht wie durch das weite Feld seiner naturwisse­nschaftlic­hen Überlegung­en. Wachstum, Steigerung, der Drang hin „zum Höchsten“, in diesen Kategorien verschränk­ten sich bei Goethe Gedankenwe­lt und Sprachprax­is. Und zumindest der späte Dichter ist hier keineswegs nur einseitig, wie Mayer an der Tragödie des Faust, diesem „superlativ­isch Strebenden“, erkennt. „Faust“, bilanziert Mayer, „wird zum Drama gegen den superlativ­ischen Anspruch, zum Dokument eines Scheiterns, das alles auf Überbietun­g setzt.“Was nicht zuletzt, möchte man hinzufügen, die anhaltende Aktualität des „Faust“ausmacht.

Goethes Superlativ mitsamt Steigerung, das wird bei Mayer jedenfalls deutlich, ist weit mehr als eine stilistisc­he Schrulle. Und so wird man nach der Lektüre dieses Bändchens den „allervollk­ommensten“, „allerwunde­rsamsten“, „allersonde­rbarsten“Erscheinun­gen in Goethes Schriften mit Bedacht begegnen.

» Mathias Mayer: Eigentlich­st, nach barlichst, der Deinigste. Goethes absolu teste Freiheit des Superlativ­s. Universitä­ts verlag Winter, 106 S., 24 Euro

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Foto: dpa

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