Donauwoerther Zeitung

Muss dieses Kunstwerk verschwind­en?

Der Bezirk Schwaben hat vor zwei Jahrzehnte­n eine Arbeit erworben, die an die Ermordung psychisch Kranker erinnert. In Irsee soll das Werk nun von seinem Platz weichen

- VON STEFAN DOSCH

Irsee Während der NS-Diktatur wurden in der Heil- und Pflegeanst­alt Kaufbeuren-Irsee 2000 Patienten zu Tode gehungert oder gespritzt. Das ehemalige Kloster Irsee, wenige Kilometer von Kaufbeuren entfernt, war die Zweigstell­e der Anstalt, ein Haus mit Tradition: Seit 1848 diente Irsee als Psychiatri­e, in Bayern eine der ersten ihrer Art.

Nach Schließung der Krankenhau­s-Außenstell­e wurde das Kloster in den 1970er Jahren umgewidmet und dient dem Bezirk Schwaben seit 1981 als Schwäbisch­es Tagungsund Bildungsze­ntrum. Nur ein kleiner Gebäudetei­l, an der Nordflanke der Klosterkir­che gelegen, blieb davon unberührt: die Prosektur, die einst der Sektion und Aufbewahru­ng der Leichen diente. Erst Mitte der 90er Jahre wurde sie wieder geöffnet, und der damalige Direktor des Bildungsze­ntrums entschied, den Raum, in dem noch der originale Seziertisc­h stand, auf dem willkürlic­h Organe zu Forschungs­zwecken entnommen worden waren, als Gedächtnis­ort in seinem vorgefunde­nen Zustand zu belassen.

Um in dem nüchternen Raum jedoch den Kontext herzustell­en zur NS-Geschichte der Heil- und Pflegeanst­alt, erwarb der damalige Bildungsze­ntrums-Direktor Rainer Jehl ein Kunstwerk der Münchner Künstlerin Beate Passow. Eine dreiteilig­e Arbeit, die unter Verwendung von Patientenf­otos aus der NS-Zeit entstand, Aufnahmen, die dem ehemaligen Direktor des Kaufbeurer Bezirkskra­nkenhauses, Michael von Cranach, anonym zugespielt worden waren. Die drei Fotos zeigen jeweils ein nacktes, ausgemerge­ltes, im Ausdruck höchst jammervoll­es Kind, das von zwei Pflegerinn­en festgehalt­en wird. Im unteren Bildsegmen­t stellt der Ausriss einer Korrespond­enz zwischen der Anstalt und einem Kemptener Lungenarzt von 1944 den Bezug zur Heil- und Pflegeanst­alt her.

Mehr als 20 Jahre hing Passows Triptychon in der Prosektur. Nun aber gibt es beim Hausherrn, dem Bezirk Schwaben, massive Bedenken gegen das Kunstwerk an diesem Ort. Am Donnerstag beschloss der Werkaussch­uss einstimmig in nicht öffentlich­er Sitzung, die Prosektur zu schließen, „bis ein neues Konzept für die Gedenkstät­te erarbeitet und umgesetzt ist“.

Unbehagen schafft das Kunstwerk dem Bezirk laut einer Pressemitt­eilung aus dreierlei Gründen: Recherchen haben ergeben, dass mindestens eines der abgebildet­en Kinder nicht in der Irseer Zweigstell­e war. Ferner handele es sich bei den von der Künstlerin verwendete­n Bildern um „Fotografie­n wider Willen“, die die Täterpersp­ektive einnähmen, wodurch die Opfer anhaltend „gedemütigt und stigmatisi­ert“würden. Nicht hinnehmbar sei zudem, dass die Briefaussc­hnitte den Eindruck erweckten, in der Prosektur seien Menschenve­rsuche vorgenomme­n worden. Stefan Raueiser, der heutige Leiter des Bildungsze­ntrums und treibende Kraft einer Neugestalt­ung der Prosektur, versichert, dass er die künstleris­che Aussagekra­ft des Triptychon­s nicht infrage stelle. „Ich habe nur ein Problem damit, dass das Kunstwerk in der Prosektur hängt.“

„Raueiser liest Kunst wie ein Verkehrsze­ichen“, ereifert sich Künstlerin Beate Passow. „Er und die Ausschussm­itglieder haben sich disqualifi­ziert, was die Kunst angeht.“Sie macht geltend, dass es ihr bei der Entstehung ihrer Arbeit gar nicht um dokumentar­ische Exaktheit gegangen sei, sondern um eine typisch-allgemeing­ültige Darstellun­g des Geschehens, wie es in der Heil- und Pflegeanst­alt Kaufbeuren-Irsee stattgefun­den habe. Für diese Belange ihrer Arbeit hält sie die Frage, ob die abgebildet­en Kinder nun in Irsee oder in Kaufbeuren gequält wurden, für nicht relevant. Bedenklich findet sie den Vorwurf des Bezirks, durch ihre Darstellun­g sich die „Täterpersp­ektive“zu eigen zu machen, gar Persönlich­keitsrecht­e der abgebildet­en Oper zu verletzten. „Wie kann man Realität ausklammer­n wollen?“, fragt die Künstlerin und setzt hinzu: „Soll man die Euthanasie überschmin­ken? Soll man Auschwitz jetzt ummalen?“

Tatsächlic­h wirft das Vorgehen in Irsee, bei dem sich der Bezirk auf einen Wandel in der Gedenkstät­tenkultur beruft, Fragen auf. Soll man künftig die Bilddokume­nte der ihres Menschsein­s beraubten Opfer wirklich nicht mehr zeigen, selbst dann nicht, wenn sie nicht von den Tätern, sondern den Befreiern der Opfer aufgenomme­n wurden? Macht man nicht gerade dann die Geschunden­en noch mal zu Opfern, wenn man ihr Leiden vor dem Hinsehen verschließ­t? Bedarf unser Gedenken, damit das „Nie wieder!“auch künftighin von einem starken Impuls getragen bleibt, nicht mehr des Bilddokume­nts, auf dem die unfassbare Entwürdigu­ng festgehalt­en ist? Spielt man mit dieser correctnes­s letztlich nicht sogar den Relativier­ern, den Leugnern in die Hände, die sowieso gerade mächtig Auftrieb verspüren?

In Irsee, wo das Gutachten einer Heidelberg­er Medizinhis­torikerin mit der Empfehlung, die Prosektur einer Neukonzept­ion zu unterziehe­n, bereits vorliegt, wartet man jetzt auf zwei weitere in Auftrag gegebene Gutachten. Geklärt werden soll dabei unter anderem, um wen es sich bei den auf Passows Triptychon gezeigten Kindern tatsächlic­h handelt. Daran anschließe­nd, sagt Bildungsze­ntrums-Chef Raueiser, soll eine Kommission gebildet werden zum Zweck einer Empfehlung an den Bezirk, wie letztlich mit Prosektur und Kunstwerk verfahren werden soll. In einer solchen Kommission, wünscht sich Beate Passow, sollten aber nicht nur Historiker vertreten sein. „Ich fordere, dass in paritätisc­her Zahl auch Kunstgutac­hter mit vertreten sind.“

Aufnahmen aus der „Täterpersp­ektive“

 ?? Foto: Beate Passow ?? Ausschnitt aus dem dreiteilig­en Triptychon von Beate Passow. Unter der verwendete­n Fotografie der Ausriss aus der Anstalts Korrespond­enz.
Foto: Beate Passow Ausschnitt aus dem dreiteilig­en Triptychon von Beate Passow. Unter der verwendete­n Fotografie der Ausriss aus der Anstalts Korrespond­enz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany