Donauwoerther Zeitung

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (150)

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GWilli Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Gutenberg

uten Tag“, sagt er befangen. „Guten Tag“, antwortet sie verlegen.

Damit ist es erst einmal alle. Sie sieht zögernd auf den Brief in seinen Händen.

Ein komischer Umschlag, aufgerisse­n, mit einer Marke und einem Stempel darauf.

Er sieht auch auf den Umschlag. „Geben Sie mir doch den Brief“, sagt sie schnell.

„Ich habe ja gar keinen“, sagt er. „Ich wollte nur, daß Sie runterkäme­n.“

Pause.

„Ich muß rauf“, sagt sie. „Heute abend um acht Uhr am Stadtwall“, schlägt er vor. „Das geht nicht“, sagt sie. „Meine Mutti…“, sagt sie. „Bitte!“sagt er.

Sie verzieht den Mund und sieht ihn an.

„Ich will es versuchen“, sagt sie. „Bitte!“sagt er.

„Acht Stadtwall“, sagt er. „Gut“, sagt sie.

Sie sehen sich an. Plötzlich müssen sie alle beide lachen.

„Sind Sie komisch mit Ihrem Brief!“lacht sie.

„Nicht wahr?“fragt er stolz. „Hab ich Sie doch endlich erwischt.“

„Also um acht!“„Pünktlich!“

„Bis dahin!“

„Tjüs!“

Zurück in die Häuser. Zurück hinauf im Sturm die Treppen. Es sind nur noch ein paar Stunden bis acht, bis acht sind’s nur ein paar Stunden – man kann das singen, entdeckt er.

Man kann es aber nicht lange singen.

Schon als er sieht, daß die dicke Schneideri­n Gubalke mit dem weißen, kurzgeschn­ittenen Haar über die Gasse kommt, bei ihnen unten am Haus klingelt, hereingeht – schon da will er den Gesang abbrechen. Der Schüler zwingt sich, er singt weiter, aber es klingt jetzt spärlich, und zu oft setzt er aus, wenn er sich aus dem Fenster lehnt, um zu sehen, ob die Schneiderm­eisterin noch immer nicht zurückkomm­t. Nein, sie kommt noch nicht, und die leere Schneiders­tube drüben grinst ihn öde und häßlich an. Ein paar Stunden bis acht? Eine endlose Zeit bis acht!

Da kommt sie. Sie geht über die Gasse zurück zu ihrem Haus, aber in der Tür dreht sie sich um und entdeckt den Schüler in seinem Fenster, sie blickt ihn böse an, sie schüttelt die Faust gegen ihn. Dann knallt die Tür drüben zu.

,Es kann so schlimm nicht werden. Ich habe ja eigentlich gar nichts getan‘, beruhigt er sich.

Doch schon klopft es an seiner Tür, und Mädchen Minna, ein älteres, bitteres Reibeisen, sagt: „Sie sollen zu Herrn Pastor kommen! Gleich!!“

„Schön“, sagt der Schüler und glättet vor dem Spiegel sein Haar mit dem Kamm. „Gleich! Sofort!!“„Komme ja schon.“

„Sie werden was erleben! Na!!“„Zitrone…“, sagt der Schüler und geht die beiden Treppen hinunter in das Arbeitszim­mer des Pastors.

Er klopft an, es wird ,Herein‘ gerufen, ölig – sanft, und vor seinem Pastor steht der Schüler.

Sanft, viel zu sanft. Immerhin doch: Betrübnis und Enttäuschu­ng. Leichtfert­ige Liebschaft, Entweihung des geistliche­n Heimes, unerlaubte Korrespond­enz, überhaupt viel zu jung.

„Was soll denn später aus dir werden, wenn du so anfängst?“

„Ich habe doch gar keinen Brief geschriebe­n.“

„Dies Leugnen ergänzt dein Bild. Minna hat es auch gesehen, nicht nur Frau Gubalke. Die ganze Gasse wird es gesehen haben. Morgen weiß die Stadt, welch ein Mensch in meinem Heim wohnt…“

„Ich habe aber wirklich nicht…“„Ich habe nicht die Absicht, mich mit dir zu unterhalte­n. Geh hinauf und pack deine Sachen. Dein Vater ist bereits telephonis­ch von mir benachrich­tigt. Schon diese Nacht darfst du nicht mehr unter meinem Dach schlafen.“

Des Schülers Mund verzieht sich weinerlich …

„Bitte, Herr Pastor, ich bitte Sie…“

„Nichts. Erst fünfzehn und schon mit Mädchen. Pfui! Pfui! Ich sage Pfui!“

Der geistliche Zeigefinge­r droht. Dann weist er gegen die Tür, und der Schüler hat nur noch zu gehen.

Oben ist er allein. Er versucht zu packen, muß aber weinen, Minna bringt noch seine Wäsche: „Ja, jetzt können Sie heulen! Pfui!“

„Raus, Zitrone!“brüllt er und kann nun auch nicht mehr heulen.

Und indes der Tag mit all seinen fröhlichen, eiligen Sonnabend-Geräuschen in den Abend übergeht, sitzt er da auf seinem WachstuchS­ofa, auf einem Stuhl den halb gepackten Koffer, den er doch nicht ganz füllen mag, weil er immer noch nicht glauben kann, daß es wirklich ganz zu Ende ist …

Kurz nach sieben hört er die Fahrradkli­ngel vom Vater. Er stürzt ans Fenster, er ruft: „Vati, komm doch erst rauf zu mir!“

Aber wenn der Vater auch nickt, so kommt er doch nicht. Sicher hat ihn der Pastor abgefangen. Vater hält sonst immer Wort.

Noch fünf Minuten Warten, dann knackt die Treppe unter Vaters festen Reitstiefe­ln, und er tritt ein.

„Na, mein Sohn? An den Wassern Babylons saßen sie und weinten? Zu spät! Zu spät! Erzähle schon deine Sünden.“

Vater ist immer herrlich. Wie da der große, starke Mann am Tisch auf einem Stühlchen sitzt, in den Reithosen mit dem grauen Ledereinsa­tz, der grünen Joppe, mit dem gesunden, rotbraun gebrannten Gesicht und der schneeweiß­en Stirn darüber – weiß und rotbraun grenzen scharf aneinander, das macht der Mützenrand – ja, wie er das schon sagt: ,Erzähl deine Sünden‘, da ist alles gleich leichter.

Er hört zu, gut hört er zu. „Schön“, sagt er schließlic­h.

„Und weiter war nichts? Schön. Geh’ ich noch mal runter zu deinem Pastor.“

Aber er war sehr schnell wieder da, mit etwas gerötetem Gesicht. „Nichts zu machen, mein Sohn, du bist und bleibst ein Sündenschi­ppel. Also kommst du zuerst mal mit mir nach Haus. Mutter wird sich bestimmt freuen.“

„Den Koffer lassen wir hier. Den kann morgen der Eli holen. Der muß sowieso in die Stadt. Soweit die Straße glatt ist, kannst du hinten auf dem Rad stehen. Nachher in den Bergen schieben wir beide. Um elf sind wir zu Haus.“

„Aber die Schule?“„Fürchte, Söhnchen, mit dem Gymnasium ist es auch alle. Der wird dich bei deinem Direktor hübsch verklatsch­en. Das sehen wir morgen. Ich reite noch mal rüber.“Und so gehen sie los.

Der Vater links vom Rad, der Sohn rechts.

Minna lacht aus dem Küchenfens­ter.

„Sie Pute!“schreit der Vater plötzlich hochrot.

„Ich nenne sie immer die Zitrone“, erklärt der Sohn.

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