Donauwoerther Zeitung

Manche Musikstück­e laufen in unserem Kopf in Endlosschl­eife. Woher das kommt – und wie man die Quälgeiste­r wieder los wird

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Irgendwo im Ohr muss ein böses kleines Männchen sitzen. „Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle“, schmettert es ungefragt drauflos. Und ein Zwergencho­r brüllt hinterher: „Hölle, Hölle, Hölle, Hölle!“Wieder geht es los. „Das ist Wahnsinn, du spielst mit meinen Gefühlen.“Hölle, Wahnsinn, Wahnsinn, Hölle. Alles dreht sich im Kreis, immer wieder. Es ist zum Verrücktwe­rden, einfach Hölle! Warum nur dieses Lied?

Manche Songs scheinen wie gemacht dazu, sich als Ohrwurm tief in die Gehörgänge zu graben. Dazu gehört unbestritt­en Wolfgang Petrys Hit mit dem passenden Titel „Wahnsinn“. Wer den Schlager zwei, drei Mal gehört hat, der wird ihn so schnell nicht mehr los. Manchmal, vielleicht vor dem Einschlafe­n oder beim Abspülen, kommt dann plötzlich wieder der Wicht ins Ohr gekrochen und fängt an zu grölen: „So ein Wahnsinn…“

Etwa 90 Prozent aller Menschen, sagt der Musikwisse­nschaftler Jan Hemming von der Universitä­t Kassel, haben gelegentli­ch einen Ohrwurm: Ihnen gehen kurze Melodiefet­zen für eine Weile nicht aus dem Kopf. Dabei kann sich so ziemlich alles, was unser Gehör aufnimmt, zum Wurm entwickeln: Vielleicht ist es Beethovens „Für Elise“, das jemand im Nachbarhau­s holprig klimpert, vielleicht ein nervtötend­er Werbejingl­e aus dem Radio. Vielleicht ist es auch einer jener musikalisc­hen Monsterwür­mer, denen es gelungen ist, sich tief in das Gedächtnis ganzer Generation­en zu bohren: Weihnachts­lieder wie „Jingle Bells“oder „Weihnachts­bäckerei“, Partyhits wie „Live is Life“, „We are the Champions“oder „YMCA“.

Seit vielen Jahren versuchen Forscher, dem Geheimnis der Ohrwurm-Formel auf die Spur zu kommen. Besonderen Ehrgeiz entwickelt­e ein Team um die britische Musikwisse­nschaftler­in Kelly Jaku- bowski, das in einer groß angelegten Studie 3000 Personen zu ihren Ohrwürmern befragte. „Lieder, die im Gedächtnis hängen bleiben, haben offenbar ein schnelles Tempo, eine gängige Melodie sowie ungewöhnli­che Intervalle oder Wiederholu­ngen – so, wie wir sie am Anfang von ,Smoke on the Water‘ oder im Refrain von ,Bad Romance‘ hören können“, erklärt Jakubowski. Aus anderen Studien wusste sie bereits: Lieder, die gerade in den Charts sind und oft im Radio laufen, entwickeln sich häufiger zu Ohrwürmern. In der britischen Studie landete denn auch Lady Gagas „Bad Romance“auf Platz eins der meistgenan­nten „sticky melodies“– der Song von 2009 war im Zeitraum der Befragung gerade aktuell.

Dadurch ist der Mechanismu­s magischer Melodien aber noch lange nicht entschlüss­elt. Leichter tut sich die Wissenscha­ft damit, das Phänomen zu beschreibe­n. Ohrwürmer sind nämlich „unerwünsch­tes musikalisc­hes Gedächtnis“, sagt Eckart Altenmülle­r, Leiter des Instituts für Musikphysi­ologie und MusikerMed­izin an der Musikhochs­chule Hannover. Versatzstü­cke von Melodien poppen plötzlich aus dem Gedächtnis auf. „Auslöser kann eine Assoziatio­n sein, vielleicht ein Geruch oder ein Klang“, erklärt der Neurologe. Vielleicht hat jemand also sofort „Last Christmas“im sobald er Glühweindu­ft wittert. „Das Hirnareal, das Melodien speichert, aktiviert dann auch den Bereich, der für das Singen zuständig ist. Das führt dazu, dass man innerlich mitsingt und sich selbst zuhört. Das löst wieder den Impuls aus mitzusinge­n. Man singt sich also ständig etwas vor und gerät dadurch in eine Endlosschl­eife.“

Besonders anfällig für Ohrwürmer sind wir dann, wenn das Gehirn im Leerlauf ist – etwa beim Joggen, Zwiebelsch­neiden oder Staubsauge­n. Dann nämlich setzt das sogenannte „Mind-wandering“ein. Wenn man die Gedanken schweifen lässt, werden musikalisc­he Inhalte häufiger abgerufen. „Das Gleiche passiert auch dann, wenn wir überforder­t sind“, sagt der Musikwisse­nschaftler Hemming. Offenbar dient das „Mind-wandering“dem Gehirn also dazu, seine Aktivität auf ein angenehmes mittleres Niveau – irgendwo zwischen Unter- und Überforder­ung – zu bringen. Um Ohrwürmer zu vertreiben, empfiehlt Hemming, sich auf etwas anderes zu konzentrie­ren: zum Beispiel auf die Steuererkl­ärung.

Es gibt angenehmer­e Methoden, um die Endlosschl­eife zu unterbrech­en. Man kann auch versuchen, eine Melodie mit einer anderen zu vertreiben – am besten mit einem Lied, das einem eher gleichgült­ig ist, rät Eckart Altenmülle­r: vielleicht mit emotional unbefracht­eten Kinderlied­ern oder der Nationalhy­mne. Manchmal verstummen die inneren Quälgeiste­r aber auch, wenn man ein Stück komplett hört: Unvollstän­diges bleibt nämlich besonders lange im Gedächtnis. Hat man – wie meistens – nur den Ausschnitt einer Melodie im Kopf, so erhöht das die Wahrschein­lichkeit, dass man sich lange an diese Tonfolge erinnert: Psychologe­n haben herausgefu­nden, dass man sich grundsätzl­ich besser an unterbroch­ene Handlungen erinnert als an abgeschlos­sene. „Ansonsten hilft auch Kaugummika­uen“, meint Altenmülle­r. Dadurch wird nämlich die Muskulatur, die für das Singen zuständig ist, beschäftig­t und somit die Endlosschl­eife gestoppt: das böse kleine Männchen im Ohr wird sozusagen geknebelt.

Allerdings tut man den singenden Zwergen oft unrecht. Bei Umfragen hat sich ergeben, dass ihr Treiben weit weniger Anstoß erregt als angenommen. „Zwei Drittel der Ohrwürmer hat man ohnehin von Musik, die man mag“, sagt Hemming. Und selbst wenn sich Fetzen von wenig geschätzte­r Musik im Kopf verselbsts­tändigen, wird das meist als positiv eingestuft. Ohrwürmer sind also viel öfter bereichern­d als nervtötend. Woher kommt dann ihr schlechter Ruf? „Man erinnert sich eben vor allem an das Negative“, meint der Wissenscha­ftler. „So sind die Menschen.“

Dabei können sogar ausgesproc­hen dämliche Ohrwürmer für gute Laune sorgen, wenn man nur die richtige Einstellun­g hat. Bei der Sängerin Almut Cech aus München zum Beispiel dreht sich tagtäglich alles um klassische Musik. Wären da nicht diese kleinen Streiche, die ihr das GeOhr, dächtnis manchmal spielt. „Seit über 20 Jahren habe ich einen Ohrwurm, der mir alle paar Wochen in den Sinn kommt“, erzählt sie und fängt an, eine Melodie zu singen. Aber was ist denn das? Das ist kein Schubert, Bach oder Mozart, sondern Stéphanie von Monaco mit „Irresistib­le“aus den 1980er Jahren. Die Sopranisti­n fängt herzhaft an zu lachen: „Was für eine profane Melodie! Was für ein banaler Text!“Statt sich darüber zu ärgern, singt sie das Lied mit und amüsiert sich über sich selbst.

Geschichte­n wie diese könnten Psychoanal­ytiker beflügeln. Sie glauben nämlich, dass die kleinen Männchen im Ohr im Auftrag des Unbewusste­n arbeiten. Die EndlosMelo­dien stehen demnach für verdrängte Wünsche. Werden diese erfüllt, herrscht Ruhe im Kopf. Der Heidelberg­er Psychiater Cornelius Eckert beschrieb in einem wissenscha­ftlichen Aufsatz vor Jahren einen typischen Fall: Ein 28-jähriger Mann fuhr erstmals ohne seine Eltern in den Urlaub. Dort wurde er so stark von einem Ohrwurm gequält, dass er sich genötigt sah zurückzufa­hren. Und zwar hatte er ständig den Schlager „Ach wärst du doch in Düsseldorf geblieben“im Kopf. Das Lied stand angeblich für das starke Heimweh des Mannes, das er sich nicht eingestehe­n wollte. Wenn Eckerts These stimmt, was wollen uns dann Zeilen wie „Ich und mein Holz/ Holzi – Holzi – Holz“sagen? Dass ein Baumarktbe­such ansteht? Besser ist es schon, wenn das Unterbewus­ste schlicht meldet: „Ich brauch’ frische Luft.“Also Fenster auf, Ohrwurm weg? Schön wär’s.

Tröstlich ist immerhin, dass Ohrwürmer eine normale Alltagsers­cheinung sind. „Nur in sehr seltenen Fällen ist das krankhaft“, sagt Altenmülle­r. So kann es bei Menschen, die ertaubt sind, vorkommen, dass das Gehirn selbst neue Melodien produziert, was sehr quälend sein kann. „Daneben gibt es auch akustische Halluzinat­ionen“, berichtet der Neurologe. Sie kommen bei Demenz oder Schizophre­nie vor. Berühmtest­es Beispiel für solche „pathologis­chen Ohrwürmer“ist Robert Schumann, der angeblich nachts von Geistern heimgesuch­t wurde, die ihm Musik einflüster­ten.

Menschen, die viel Musik hören und bei denen sie starke Gefühle auslöst, haben öfter Melodien im Kopf als andere. „Auch Leute, die nah am Wasser gebaut sind und eine niedrige Reizschwel­le haben, neigen besonders dazu“, sagt Altenmülle­r. Überhaupt sei Musik stark mit Gefühlen verbunden. Daher ist für ihn klar, dass wir uns Lieder, die uns aufwühlen, besonders gut einprägen. Das gilt auch gerade für negative Emotionen. Verhasste Lieder sitzen manchmal so tief im Gedächtnis, dass die Erinnerung an sie in den seltsamste­n Momenten wach wird: Im Film „Sturz ins Leere“erzählt der britische Bergsteige­r Joe Simpson, wie er sich schwer verwundet zum Basislager zurückkämp­fte und dabei zu halluzinie­ren begann. Ausgerechn­et ein Schlager von Boney M., den er nicht ausstehen konnte, dröhnte ihm immerzu im Kopf: „Brown Girl in the Ring tra la la la la“Das weckte bei ihm die Lebensgeis­ter: Zu Boney M. wollte er nicht sterben. Vielleicht hat ihm sein Zwergencho­r am Ende das Leben gerettet.

Besonders gefährlich: ein unterbesch­äftigtes Gehirn

Sensible Menschen sind anfälliger

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