Der menschliche Faktor
Geschichte Wie Krankheiten und Ähnliches den Gang der Dinge beeinflussen können. Vom urologischen Malheur eines Kaisers bis zur Schwerblütigkeit eines Generalstabschefs
Die Weltgeisterbahn, die sich Geschichte nennt, ist eine irre Abfolge von Zwangsläufigkeiten, Zufällen und oft Unerklärlichem. Ohne einen ersichtlichen Endzweck. Nicht selten ist Historie bloß das, worauf sich die Sieger als Sprachregelung geeinigt haben. Ganz gewiss wirkt Weltgeschichte jedenfalls nicht als „Weltgericht“, von dem Friedrich Schiller noch schwärmte. Am Ende empfiehlt es sich in jedem Fall, nicht bloß den Blutspuren überlebensgroßer Einzelner hinterherzuhecheln. Sondern auch Allzumenschlichem im großen Ganzen nachzuspüren.
Denn auch mächtige Staatsmänner und Feldherren können sich in entscheidenden Augenblicken widrigsten persönlichen Umständen – etwa einer plötzlichen Erkrankung – konfrontiert sehen. Oder sonst wie schwächeln. Der „menschliche Faktor“sorgt dann für ein wenig Human touch auf der Geisterbahn.
Zu einer einschlägigen „Berühmtheit“hat es beispielsweise der Blasenstein eines „halben“Augsburgers gebracht, des französischen Kaisers Napoleon III. Er verbrachte wegen politisch-dynastischer Komplikationen einen Teil seiner Jugend zunächst in und bei Konstanz und dann von 1817 bis 1823 in Augsburg. Zu seiner „tüchtigen Erziehung“hier gehörten Privatunterricht und der Besuch des Anna- Gymnasiums. Dem Vernehmen nach soll er hier auch mit dem Karzer Bekanntschaft gemacht haben.
1870, am Vorabend des DeutschFranzösischen Krieges, lag Seine Majestät schmerzvoll mit dem kastaniengroßen Blasenstein darnieder. Unter seinem chronisch gewordenen blutigen urologischen Malheur sollte der Imperator bis zum vorzeitigen Tod im Jahre 1873 leiden.
Seriöse Geschichtswissenschaftler meinen, dass der Neffe des ganz großen Bonaparte ohne den Krankheitsschub 1870 die Provokationen Bismarcks (Stichwort: „Emser Depesche“) souverän ignoriert und nicht postwendend die Kriegserklärung an Preußen adressiert hätte.
Gar nicht auszudenken, was dann passiert oder nicht passiert wäre: kein Krieg 1870/1871, keine Gründung des Deutschen Kaiserreichs ausgerechnet in Versailles. Und damit zwangsläufig auch kein unseliger Versailler „Friedensvertrag“von 1919. Ein reizvoller Fall kontrafaktischer Geschichtsschreibung, also gegen den Lauf der Dinge.
Fatalerweise wimmelte es bei eben jenem Friedensschluss, der dem Ersten Weltkrieg ein Ende setzte, nur so von privatem Leid. So outet das Buch Laura Spinneys „1918/Die Welt im Fieber/Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte“(Hanser, 378 Seiten, 26 Euro) den Wortführer der alliierten Sieger bei den Friedensgesprächen in Paris, US-Präsident Woodrow Wilson, als „berühmtestes Opfer“der seinerzeit weltweit grassierenden Grippe.
Wörtlich heißt es dazu: „Beobachter stellten fest, dass dieser sonst so ruhige, bedächtige Mann gelegentlich vergesslich und jähzornig schien und vorschnelle Urteile fällte.“
Dabei war Wilsons Gesundheit schon vor Versailles labil gewesen; mehrere körperliche Zusammenbrüche hatten ihn geschwächt. Die britische Wissenschaftsjournalistin Spinney bilanziert, die Neurologen seien sich nicht ganz einig gewesen, ob die höllische Influenza zusätzlich kleinere Schlaganfälle ausgelöst und insofern die Friedensgespräche beeinflusst habe.
Tatsache ist, dass dem Präsidenten die Kraft fehlte, sein ursprünglich 14 Punkte umfassendes Friedensprogramm durchzusetzen. Zumal da Wilson im Herbst 1919 einen Schlaganfall erlitt, der ihn linksseitig lähmte. Auch sein engster Mitstreiter in Paris, Oberst Edward House, war während der Friedenskonferenz malade – die Spanische Grippe schwächte ihn schwer. Als wären jene Tage nicht schon aufwühlend genug gewesen, wurde auf den Vorsitzenden der Pariser Konferenz, Frankreichs Premier Georges Clemenceau, noch ein Pistolen-Attentat verübt. Andreas Platthaus schildert in der Neuerscheinung „18/19/Der Krieg nach dem Krieg/ Deutschland zwischen Revolution und Versailles“(Rowohlt, 446 Seiten, 26 Euro), wie der „Tiger“damit umging, dass seit dem Anschlag am 6. Januar 1919 eine Kugel inoperabel nahe dem Herzen steckte. Versteht sich, dass unter solchen Voraussetzungen zwangsläufig die Qualität des Versailler Vertragswerks mit seinen 440 Paragrafen litt.
Der „menschliche Faktor“scheint auch in einer dritten Publikation auf, dem imposanten Kriegund-Frieden-Panorama Holger Afflerbachs: „Auf Messers Schneide/Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor“(C. H. Beck, 664 Seiten, 29,95 Euro). In den Fokus geraten dabei auch zwei der herausragenden Heerführer des damaligen Deutschen Reichs.
Der Chef der Obersten Heeresleitung, Helmuth von Moltke, verspielte gleich zu Beginn des Weltkriegs im September 1914 bei maximalem Informations-Chaos mit „schlimmstem militärischem Dilettantismus“ den schon sicher geglaubten Sieg bei der „Mutter aller Schlachten“an der Marne. Spitzen deutscher Armeen standen dabei 20 Kilometer vor Paris, als Moltke der Jüngere buchstäblich die Nerven verlor. Konsternierten Kommandeuren wurde befohlen: „Das Ganze halt.“Rückzug statt Triumph.
Der Generalstabschef wurde sofort abserviert. Ironischerweise war er selbst nach seinem eigenen Urteil „zu schwerblütig, zu bedächtig und zu bedenklich“. Also eine Art Berufspessimist. Schon im tiefsten Frieden hatten Skeptiker in Berlin massiv gewarnt, der Günstling Wilhelms II. sei kein Ausbund soldatischer Entschlossenheit und reagiere hysterisch. Zu allen Übeln plagte ihn auch eine Herzschwäche.
Auch General Erich Ludendorff, mit Marschall Paul von Hindenburg Moltkes Nach-Nachfolger als Generalstabschef, erlebte ein medizinisches wie militärisches Waterloo. Die sich mit zunehmender Kriegsdauer immer klarer abzeichnende Katastrophe strapazierte den General so sehr, dass er nach einem Weinkrampf nervenärztliche Hilfe in Anspruch nehmen musste.
Sehr menschliche Faktoren also, die am Anfang und Ende des Krieges an der Marne und im Großen Hauptquartier alle Strategien über den Haufen warfen. Werner Reif
Medizinisches wie militärisches Waterloo