Die Dummheit wurde restlos mobilisiert
Alltag im Dritten Reich Der simple Erwerb eines Damenmantels musste als Grund für eine Ehescheidung herhalten
Eine beachtliche Fülle von Detailbefunden hat der Augsburger Geschichtswissenschaftler Dietmar Süß in sein Paperback „Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich“(C. H. Beck, 303 Seiten, 18 Euro) hineingepackt. Seine vielen Einzeldiagnosen fügen sich zu einer desillusionierenden Pathologie der „Volksgemeinschaft“jener Jahre: Ein Kulturvolk im Herzen Europas fieberte sich regelrecht in Gemeinschaftsradikalität hinein.
Das Unheil fing schon beim gegenseitigen Begegnen und Begrüßen an. Es galt, einen „Bekenntnisgruß“abzulegen: Wer den „Hitler-Gruß“vermied, „Grüß Gott“oder sonst was murmelte, rief stets wachsame Zeit- und Parteigenossen auf den Plan. Pardon wurde nicht gegeben: Wer wegen eines körperlichen Gebrechens nicht mit dem rechten Arm grüßen konnte, durfte dies auch mit dem linken tun, lautete die Vorgabe. Jeglicher Zusatz zum „Heil Hitler“war untersagt. Dieser „Deutsche Gruß“war für die einen lästige Pflicht, für andere Kult und nationale Ehrensache – in jedem Fall ein Tribut an eine neuheidnische Ersatzreligion.
In dem Weltanschauungskrieg stand Hakenkreuz kontra Kreuz: Die etablierten Kirchen gerieten schon in der besonders heiklen Lage nach dem regierungsamtlichen Mord und Totschlag im Fall Röhm Mitte 1934 verschärft ins Visier des NS-Repressionsapparates. Ihn alarmierte unter anderem der große Anteil der katholischen Arbeiter unter den Gläubigen.
Bei dieser „Hexenjagd“gerieten selbst fromme Pilger unter Generalverdacht. So registrierten Spitzel einen „nie gesehenen Zulauf“an Wallfahrern von bis zu 20 000 Teilnehmern.
Die Nazis versuchten mit allerlei sinnenbetäubenden Spektakeln dagegenzuhalten: neo-„patriotische“Hochämter, Fahnenwälder, Lichtdome, immerwährende Appelle strammstehender Uniformierter und dröhnende Marschkolonnen. Für die Abteilung Brot und Spiele gab es zusätzlich die Organisation „Kraft durch Freude“(KdF). Die Prise Exotik, die dem braunen Alltag fehlte, konnte beispielsweise bei KdF-Schiffsreisen an palmengesäumte Strände gebucht werden.
Professor Süß widerlegt freilich die Legende, dass es sich bei diesen Seefahrten um ein „Massenvergnügen“gehandelt habe. Zwar wurden alte Bordklassen aufgehoben und die besseren Kabinen ausgelost. „Nur: 99 Prozent der deutschen Arbeitnehmer kamen nie in den Genuss eines kühlen Getränks oder eines eleganten“Captain’s Dinners auf hoher See, schreibt der Historiker.
Weit über auch lokalgeschichtliche Aspekte hinaus bedeutsam sind im Übrigen Erkenntnisse darüber, inwiefern die „Leistungselite“der Industriearbeiterschaft loyal zum Dritten Reich und anfällig für dessen Ideologie war. Süß führt dazu Stimmungsberichte an, die der SPD im Exil von einem Informanten vor Ort in Augsburg zugingen.
Diese verlässliche Quelle klagte etwa im September 1937 in einem Report aus einem Augsburger Rüstungsbetrieb – wohl die MAN – voll Abscheu über einen „großen Kult des qualifizierten deutschen Facharbeiters“, der einem auf die Nerven gehe: Motoren für U-Boote zu produzieren mache die Arbeiter stolz, nicht nur den Betriebsführer, sondern die gesamte Arbeiterschaft. Gipfel dieses Eiferertums: „Wer beim Motorenbau ist, grübelt zu Hause und im Betrieb, wie am zweckmäßigsten noch eine Verbesserung am Motor anzubringen wäre.“
Differenzierend heißt es in der Neuerscheinung, je nach Betrieb, gar nach Werkshalle, sei die Bereitschaft größer oder kleiner gewesen, sich der Diktatur zu fügen. In den Rüstungsbetrieben der Augsburger MAN mit ihrer starken sozialistischen Arbeiterbewegung sei sie bisweilen etwas ausgeprägter gewesen als in den nur wenige Kilometer entfernten Messerschmitt-Werken mit ihren jüngeren, besser qualifizierten Beschäftigten.
Wie sehr der totalitäre Zeitgeist sich früh aller Gewalten im Staat bemächtigt hatte, illustriert der Autor mit einem Beispiel aus der Rechtsprechung: Die Ehefrau eines Parteigenossen kaufte sich einen neuen, teuren Mantel – in einem jüdischen Geschäft. Wenig mehr als ein Jahr nach den Nürnberger Rassegesetzen – im Januar 1937 – wertete dies das Hanseatische Oberlandesgericht als „schwere eheliche Verfehlung“. Die Ehe wurde aufgelöst. Man musste sich also warm anziehen in dieser größtenteils in Furcht und Schrecken gehaltenen, mit ungeheurem Denunziationspotenzial ausstaffierten „Volksgemeinschaft“.
Der Sozialdemokrat Kurt Schumacher, auch in zehn Jahren KZHaft – darunter fast zwei Jahre in Ulm – unbeugsam geblieben, hatte schon im Februar 1932(!) diagnostiziert, dass der Nationalsozialismus der „dauernde Appell an den inneren Schweinehund im Menschen“sei. Hitler habe die „restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit“ermöglicht.