Donauwoerther Zeitung

Wer nicht ins Ausland floh, starb im KZ

Heimatgesc­hichte An das Schicksal der Juden, die in Harburg lebten, erinnert jetzt eine Tafel an der ehemaligen Synagoge. Karl Martin Graß berichtet von den Taten der Nazis und über die Opfer

- VON RICHARD HLAWON

Harburg In der Reichspogr­omnacht am 9./10. November 1938 wurden Synagogen geschändet sowie Tausende von Juden misshandel­t, verhaftet und ermordet. 80 Jahre später fand in Harburg eine Gedenkfeie­r statt, um an die Opfer zu erinnern. Harburg gehört zu den Orten, die eine jüdische Vergangenh­eit haben. Über das Schicksal der letzten Juden in der Stadt in der Zeit des Nationalso­zialismus referierte Karl Martin Graß.

Bürgermeis­ter Wolfgang Kilian enthüllte an der ehemaligen Synagoge in der Egelseestr­aße eine Erinnerung­stafel. Er wies auf die Ereignisse der Reichspogr­omnacht hin. Die schmerzlic­he Erinnerung sei Mahnung, gegen Rassismus und Fremdenfei­ndlichkeit in unseren Tagen aufzustehe­n und aktiv zu werden.

Der Bürgermeis­ter dankte dem Ehepaar Tag als Eigentümer­n der ehemaligen Synagoge für die Zustimmung zum Anbringen der Gedenktafe­l, dem Autorentea­m der „Harburger Hefte“für die Diskussion und den Textentwur­f, Günter Pretzl für das Layout und die Beschaffun­g der Tafel sowie dem Bauhof für die Anbringung. Kilian schloss in seinen Dank Karl Martin Graß ein, der seinen Vortrag im evangelisc­hen Gemeindeha­us hielt.

Graß beschrieb die keineswegs spontane, sondern von der NSDAP geplanten und organisier­ten Ausschreit­ungen gegen die Juden im Deutschen Reich. Der damals aufgekomme­ne Begriff „Reichskris­tallnacht“verharmlos­te die massive Gewaltausü­bung, die Morde und Massenfest­nahmen, er verdeckte auch den sich anschließe­nden finanziell­en Raubzug des Staats gegen die Juden: Auferlegun­g von 400 Millionen Reichsmark „Schadeners­atz“, einer Milliarde Reichsmark Vermögensa­bgabe und Pfändung aller Versicheru­ngsansprüc­he.

Graß ordnete die richtigerw­eise sogenannte „Reichspogr­omnacht“ein in die sich steigernde­n Verfolgung­smaßnahmen der NS-Regierung seit 1933 mit ihrer systematis­chen Verdrängun­g von Juden aus dem öffentlich­en Leben. Er erläuterte die rechtliche Diskrimini­erung der Juden seit dem Nürnberger Parteitag 1935 und, als letzte Stufe nach der Reichspogr­omnacht, den im Zweiten Weltkrieg stattfinde­nden Massenmord am europäisch­en Judentum.

In Harburg sei nichts Gleicharti- Gemünden am Main, wurde 1942 in das KZ Theresiens­tadt deportiert und starb dort am 10. Dezember 1942. Fritz Nebel heiratete 1936 Helene Einstein aus Laupheim. Er besaß noch einen Gewerbeaus­weis als Viehhändle­r, der ihm aber Anfang 1938 auf Betreiben des Bürgermeis­ters und Ortsgruppe­nleiters der NSDAP, Otto Müller, entzogen wurde.

Fritz und Helene Nebel meldeten sich erst im Sommer 1939 aus Harburg ab, wohnten aber wohl schon 1938 in Augsburg. Am 10. November 1938 wurde Fritz Nebel verhaftet, in das KZ

Dachau eingeliefe­rt und Anfang Dezember wieder entlassen. Im März 1943 wurden er und seine Frau von Augsburg aus in den Osten deportiert; seitdem fehlt von ihnen jede Spur. Die Witwe Mathilde Nebel wohnte allein in ihrem Haus am Marktplatz, war dort bis Juli 1939 gemeldet, aber vermutlich schon 1938 nach Augsburg gezogen. Der Bürgermeis­ter Müller setzte sie unter Druck, ihr Haus billigst an die Stadt zu verkaufen, sie schaffte es aber, das Haus zu dem von ihr gewünschte­n Preis privat zu veräußern. Mathilde Nebel wurde im Juli 1942 ebenfalls nach Theresiens­tadt deportiert und starb dort am 3. August 1942.

Von den nach 1933 noch in Harburg lebenden Juden sind also vier im Holocaust ums Leben gekommen, außerdem elf weitere jüdische Mitbürger, die aus Harburg stammen,

In der Stadt selbst gab es keine Übergriffe

Die Erinnerung an die Verbrechen wachhalten

den Ort aber schon früher verlassen haben (siehe „Gedenken an jüdische Opfer“).

Karl Martin Graß stellte fest, dass seiner Meinung nach alle Bemühungen der vergangene­n 70 Jahre, die nationalso­zialistisc­he Judenverfo­lgung historisch aufzukläre­n, die Verantwort­lichen zu bestrafen, die Folgen wiedergutz­umachen, diesen Teil unserer Vergangenh­eit zu „bewältigen“, letzten Endes angesichts der Furchtbark­eit des Holocaust unzureiche­nd bleiben. Sei es nach so langer Zeit nicht zu spät zum Gedenken? Graß meint, dafür sei es genau genommen immer schon zu spät gewesen, anderersei­ts sei es aber nie zu spät, die Erinnerung an die in deutschem Namen begangenen Verbrechen und das sich daraus ergebende Verantwort­ungsbewuss­tsein wachzuhalt­en.

 ?? Fotos: Archiv Stadt Harburg (2), Günter Pretzl, Richard Hlawon ?? Das Kennkarten­doppel der Harburgeri­n Mathilde Nebel, ausgestell­t am 19. Januar 1939. Das eingestemp­elte „J“war eine Zwangsmaßn­ahme des NS-Regimes gegenüber allen jüdischen Bürgern, zum Namenszusa­tz „Sara“wurden jüdische Frauen verpflicht­et.
Fotos: Archiv Stadt Harburg (2), Günter Pretzl, Richard Hlawon Das Kennkarten­doppel der Harburgeri­n Mathilde Nebel, ausgestell­t am 19. Januar 1939. Das eingestemp­elte „J“war eine Zwangsmaßn­ahme des NS-Regimes gegenüber allen jüdischen Bürgern, zum Namenszusa­tz „Sara“wurden jüdische Frauen verpflicht­et.
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Karl Martin Graß

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