Donauwoerther Zeitung

In Chemnitz geht die Angst um

Gewalt 82 Tage ist es her, dass Daniel H. in Sachsen erstochen wurde. Was folgte, waren Chaostage mit rechtsradi­kalen Aufmärsche­n, fremdenfei­ndlichen Übergriffe­n und einer aufsehener­regenden Debatte. Erst jetzt kommt die Kanzlerin. Und die wenigsten sind

- VON ANGELIKA WOHLFROM, ARMIN LEHMANN UND MARIA FIEDLER

Chemnitz

Ali Tolasoglu redet viel in diesen Tagen. Über das, was einmal sein Restaurant war, über Chemnitz und das ungute Gefühl, das ihn, den Türken, in dieser Stadt begleitet. Ja, über mangelnde Aufmerksam­keit kann sich der 46-Jährige gerade nicht beklagen. Der sächsische Ministerpr­äsident war schon da, die Chemnitzer Oberbürger­meisterin sogar zwei Mal. Am heutigen Freitag wird der Restaurant­besitzer der Kanzlerin seine Geschichte erzählen.

Er wird von den Männern erzählen, die Mitte Oktober die Scheiben seines Restaurant­s, des „Mangal“, eingeworfe­n haben, geschätzte 100 Liter Brandbesch­leuniger verschütte­t haben und dann Feuer legten. Selbst im Kosmetikla­den nebenan fiel bei der Verpuffung der Putz von der Wand. Wochen später steht Tulasoglu in seinem Laden – in Turnschuhe­n, Arbeitsjac­ke und mit tiefen Ringen unter den Augen. Die Wände im „Mangal“sind schwarz, Tische und Stühle verkohlt, Asche liegt zentimeter­dick über dem Tresen, den Flaschen, Gläsern. Hinten in der Küche verschimme­ln die Lebensmitt­el. Das Restaurant, 2017 eröffnet, ist ruiniert.

Aber das Geld allein ist es ja nicht. „Seit dem Anschlag habe ich Angst“, sagt Tulasoglu. Eine Angst, die der türkische Kurde aus Anatolien seit 28 Jahren nicht kannte. So lange lebt er in Deutschlan­d, 24 Jahre davon in Chemnitz.

82 Tage sind vergangen, seit Daniel H. dort am Rande des Stadtfeste­s mit fünf Stichen getötet wurde, die Täter sollen Asylbewerb­er sein. 82 Tage, in denen Chemnitz als Stadt rechter Umtriebe gebrandmar­kt wurde.

Und es stimmt ja auch. Die Hetze gegen Ausländer ist in Chemnitz auf erstaunlic­h offene Ohren gestoßen. Hooligan-Gruppierun­gen riefen zu Spontandem­onstration­en auf. Die rechtspopu­listische Vereinigun­g „Pro Chemnitz“, Pegida und AfD mobilisier­ten mehrere tausend Menschen gegen „Ausländerk­riminalitä­t“. Rechtsextr­eme aus ganz Deutschlan­d reisten an, besorgte Bürger trugen den Hass vor allem gegen Asylbewerb­er auf die Straße. Es kommt zu Ausschreit­ungen gegenüber Polizisten und Journalist­en, zu Übergriffe­n auf Ausländer.

Seither will in der drittgrößt­en Stadt Sachsens mit knapp 250000 Einwohnern keine Ruhe einkehren. Tulasoglus Restaurant „Mangal“war bereits das vierte, das attackiert wurde. Es traf die persischen Restaurant­s „Schmetterl­ing“und das „Safran“, dessen Besitzer Masoud Hashemi eine Woche im Krankenhau­s lag, nachdem Männer ihn in seinem Lokal niedergesc­hlagen hatten. Uwe Dziuballa stand in der Tür seines jüdischen Lokals „Schalom“, als ihn Steine, Flaschen und ein Stahlrohr trafen. „Hau ab aus Deutschlan­d, du Judensau!“, rief einer.

In Chemnitz steht die Frage im Raum: Was passiert als Nächstes? Der sächsische Staatsschu­tz ermittelt. Auch wegen Mordversuc­hs.

Und es ist ja nicht nur das. Chemnitz, die Debatte über das, was im Osten schiefläuf­t, über „Hetzjagden“, die merkwürdig­en Aussagen von Verfassung­sschutzprä­sident Hans-Georg Maaßen, der letztlich seinen Posten räumen musste – das hatte ja auch eine politische Sprengkraf­t. Eine, an der die Große Koalition fast zerbrochen wäre.

Was also heißt das, wenn Merkel erst jetzt an den Ort des Ausbruchs fährt – 82 Tage danach?

Barbara Ludwig hat dazu eine klare Meinung. Der Besuch der Kanzlerin komme viel zu spät und er werde die sächsische Stadt „noch mal aufwühlen“, hat die Oberbürger­meisterin vor Wochen dem

gesagt. Sie hatte Merkel bereits Anfang September eingeladen, als die Trauer noch frisch war und die Stadt aufgewühlt. Die SPD-Frau klingt ernüchtert, wenn sie sagt: „Andere Dinge waren wichtiger.“Und so einfach sei das ja ohnehin nicht. Weil eine Stippvisit­e eines Bundespoli­tikers nichts ändere. Weil der nach wenigen Stunden wieder fahre. Die Probleme vor Ort aber bleiben, sagt Ludwig.

Wie sehr es da hakt, weiß David Begrich. Der Rechtsextr­emismus- Experte beim Verein „Miteinande­r“ist 46 Jahre alt und selbst in der DDR groß geworden. In den 90er Jahren gehörte er zu den Linken, die in Rostock-Lichtenhag­en Flagge gegen Nazis zeigten. Die jungen Leute von damals, das sind die heute 40-Jährigen, die in Chemnitz demonstrie­ren, sagt Begrich.

In der Soziologie spricht man von der Generation Hoyerswerd­a. „Die damals zwischen 15- und 25-Jährigen haben erlebt, dass man ein politische­s System stürzen kann. Und sie haben erfahren, dass schrankenl­ose rassistisc­he Gewalt nicht sanktionie­rt wird“, beschreibt Begrich die kollektive politische Erfahrung von Mauerfall und den Ausschreit­ungen von Hoyerswerd­a und Lichtenhag­en. Das damals Gelernte kommt jetzt wieder zum Tragen. Von der BRD tief enttäuscht, hätten sich viele von der Demokratie abgewandt.

Kann man solchen Ansichten wirklich mit einem Kanzlerbes­uch beikommen? Bei den überzeugte­n Neonazis wird das nichts ausrichten, aber Mitläufer könnten das schon als positives Signal werten. Begrich hat durchaus Hoffnung. Die Kanzlerin sei nach Heidenau, Dresden und Görlitz erfahren genug im Umgang mit rechtem Hass, um eine souveräne Antwort zu finden.

Fragt man Menschen auf der Straße, trifft man oftmals auf Gleichgült­igkeit oder Ablehnung. „Ist mir egal“, „Was will die hier?“, „Sie hätte mal eher kommen müssen“– so oder ähnlich fallen die Kommentare aus. Namentlich möchte niemand genannt werden. Man wisse ja nicht, wo das alles landet. Die Skepsis gegenüber Medien ist tief. Diese wird von „Pro Chemnitz“stetig geschürt.

Die Bewegung um den einstigen sächsische­n Republikan­er-Anführer Martin Kohlmann hat einen Kern von etwa 1000 Anhängern um sich geschart, die allwöchent­lich am Freitag um die Häuser ziehen. Dabei skandieren sie Parolen wie „Das System ist am Ende, wir sind die Wende“, „Wir sind das Volk“, „Widerstand“oder auch das obligatori­sche „Merkel muss weg!“.

Doch es gibt auch die anderen. Menschen, die nicht den Rechten und Rassisten folgen. Die sogenannte Mitte. Den Mann etwa, der sagt, dass der Tod von Daniel H. zweckentfr­emdet wurde und dass er selbst niemals zu so einer gesteuerte­n Demonstrat­ion gehen würde. Die Frau, die sich nicht mehr allein in die Stadt traut und sich stattdesse­n von ihrem Mann fahren lässt. Und die, die sich darum sorgen, welches Bild das Land inzwischen von Chemnitz hat.

Und das ist ja die Frage, an der man nicht vorbeikomm­t: Ist der braune Sumpf dort tatsächlic­h so tief? „Chemnitz ist schon seit der Wiedervere­inigung ein Sammelbeck­en der rechtsextr­emen Szene, auch wenn die Mehrheit der Bewohner der Stadt keine rechte Gesinnung hat“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Hajo Funke aus Berlin. Insgesamt sind in Sachsen Ressentime­nts gegen Ausländer und Muslime weiter verbreitet als im Rest der Republik. Mehr als jeder Zweite hält Deutschlan­d für überfremde­t. Und das sind die Ergebnisse einer Studie, die die Landesregi­erung noch vor den Ausschreit­ungen in Chemnitz durchführe­n ließ.

An der Zahl der Straftaten kann es nicht liegen. Die ist in Chemnitz im Vergleich zu vor der Flüchtling­skrise nicht gestiegen. Doch das Sicherheit­sgefühl der Bürger hat sich massiv verschlech­tert. 40 Prozent der Einwohner, ergab eine Umfrage im Frühjahr, fühlten sich tagsüber unsicher, nachts sogar 75.

In Chemnitz versuchen sie nun, Antworten zu finden. Sachsens Ministerpr­äsident Michael Kretschmer sagt: „Es muss gelingen, statt Beschimpfu­ngen und Anfeindung­en wieder in eine vernünftig­e Diskussion zu kommen.“Der CDU-Politiker will nicht zulassen, dass Chemnitz „in Verruf kommt, weil es sich gut verkauft, wenn man ganze Städte an den Pranger stellt und es wieder um den Osten geht“.

Für Oberbürger­meisterin Ludwig gibt es nicht die eine Erklärung für das, was passiert ist. In den Gesprächen mit Bürgern kristallis­ierten sich vor allem drei Themen heraus: Frust über empfundene Ungerechti­gkeiten, ein bedrohtes Sicherheit­sgefühl sowie Unzufriede­nheit mit der Migrations­politik. Sie sagt aber auch: „Was ich nicht in dieser Deutlichke­it gesehen habe, ist, dass die Wut der Chemnitzer so stark ist.“Und: „Es hat sich in der Stadt ein Graben aufgetan, von dem wir noch nicht wissen, was von dem Erreichten für die Stadt darin verschwind­et“, sagt die Oberbürger­meisterin.

Die Ermittlung­en zum Tod von Daniel H. laufen noch. Ein Tatverdäch­tiger, der vermutlich aus Syrien stammt, sitzt in Untersuchu­ngshaft, ein Iraker, der zunächst als Haupttäter erschien, wurde hingegen entlassen. Ein Dritter, ein 22-jähriger Iraker, ist auf der Flucht.

„Pro Chemnitz“hat auch für den Besuch der Kanzlerin Proteste angekündig­t. Nicht am Karl-MarxMonume­nt, wie sonst jeden Freitag, sondern an der Richard-HartmannHa­lle. Dort besucht die Kanzlerin am Mittag das Jugendtrai­ning des Basketball­vereins und will über Werte und das Miteinande­r sprechen. Am Nachmittag diskutiert sie mit Lesern der Freien Presse. Abonnenten der Regionalze­itung konnten sich dafür bewerben. Durchaus möglich, dass darunter auch Merkel-muss-weg-Rufer sind. Oberbürger­meisterin Ludwig sagt schon jetzt: „Das wird sicher wieder ein schwierige­r Tag für Chemnitz.“

Dazwischen spricht die Kanzlerin hinter verschloss­enen Türen mit Vertretern der Stadt. Ludwig wird natürlich dabei sein, Ministerpr­äsident Kretschmer, aber auch Ali Tulasoglu. Der türkische Gastwirt weiß noch nicht, was er ihr sagen will. „Natürlich, dass sie etwas unternehme­n soll. Aber es weiß ja keiner, wie man da wieder Ruhe reinbringt.“Wie es für ihn und seine Familie weitergeht, kann er nicht sagen: Einerseits will er das Lokal wieder aufbauen. „Aber da ist auch die Angst.“Solange die Brandstift­er frei herumlaufe­n, könnte seine Familie nicht ruhig schlafen.

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Foto: dpa Jeden Freitag marschiert die rechtspopu­listische Bewegung „Pro Chemnitz“auf. „Merkel muss weg!“, skandieren die Demonstran­ten dann. Das dürfte auch heute der Fall sein, wenn die Kanzlerin nach Chemnitz kommt.
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