Das Meer wird zur neuen Kampfzone
Hintergrund Der Westen ist alarmiert: Der Konflikt zwischen Moskau und Kiew weitet sich aus. Beide Präsidenten – Wladimir Putin wie Petro Poroschenko – haben Motive zu zündeln
Moskau Im Osten nichts Neues? Der fast vergessene Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist mit Vehemenz zurück – an einer neuen Front auf dem Meer, mit neuer Gewalt und mit möglichen Auswirkungen bis zu Nato und EU in Brüssel. Auf dem Schwarzen Meer vor der Küste der Halbinsel Krim spielten sich am Sonntag Jagdszenen ab.
Zwei kleine Patrouillenboote vom Typ Gjursa der ukrainischen Marine und ein Schlepper versuchten, durch die Meerenge von Kertsch ins Asowsche Meer einzulaufen. Doch erst rammte ein Schiff der russischen Küstenwache den Schlepper, später schossen die Russen und brachten die drei Schiffe auf. Zwar haben Russland und die Ukraine einander einmal freie Schifffahrt in dem flachen Asowschen Meer versprochen. Doch seit Moskau die Krim annektiert und durch eine Brücke erschlossen hat, verteidigt es die wichtige Meerenge von Kertsch als sein alleiniges Hoheitsgebiet.
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sprach am Montag mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Stoltenberg forderte im Anschluss Russland auf, die festgesetzten ukrainischen Soldaten und Schiffe „unverzüglich“freizugeben. „Es gibt keine Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Gewalt gegen ukrainische Schiffe und ukrainisches Marinepersonal“, sagte er. Poroschenko beantragte die Verhängung des Kriegsrechts für 30 Tage. Das Parlament in Kiew stimmte dem am Abend nach turbu- Debatte zu. Russland nannte das Verhalten der ukrainischen Schiffe eine Provokation und warnte den Westen davor, sich auf die Seite Kiews zu schlagen.
Mögliche Motive für eine Zuspitzung haben beide Staatschefs – Poroschenko wie Putin. Russland verleibte sich die Krim 2014 ein, nach einem international nicht anerkannten Referendum. Aus Moskauer Sicht wurde der historische Fehler korrigiert, dass der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow die Halbinsel 1954 von Russland der Ukraine übertragen hat. Im Osten der Ukraine führt Russland ebenfalls seit 2014 verdeckt Krieg. Seine Militärmacht versteckt sich hinter den separatistischen Kämpfern der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Mehr als 10 000 Menschen sind im Kohlerevier Donbass bislang getötet worden.
Weder Separatisten noch die Ukraine halten sich an die geltende Waffenruhe. Eine Friedenslösung, ausgehandelt unter deutscher und französischer Vermittlung, steckt fest. In den letzten Monaten hat die Ukraine unerwartete Erfolge erzielt – auf ganz anderem Gebiet. Das Oberhaupt der weltweiten Orthodoxie, der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, der in Istanbul sitzt, will der Ukraine eine eigene, von Russland unabhängige Kirche geben. Für Moskau und seine ortholenter doxe Kirche wäre der Verlust von Millionen Gläubigen in der Ukraine ein schwerer Schlag. Die Eskalation auf dem Schwarzen Meer könnte auch damit zusammenhängen.
Das offensichtlichere Motiv hat Poroschenko. In Kiew wurde die Aktion sofort mit der für März erwarteten Präsidentenwahl verbunden. Der Amtsinhaber liegt in Umfragen abgeschlagen hinter der ExRegierungschefin Julia Timoschenko. Selbst um den Einzug in eine Stichwahl müsste er bangen.
Die Ausweitung auf eine dritte Front im Asowschen Meer hat sich bereits seit Monaten, unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit, abgezeichnet. Ein Abriegeln des Binnenmeeres würde die Ukraine wirtschaftlich treffen. „Putin versucht mit ein paar Schüssen, aus dem offenen Asowschen Meer ein Meer zu machen, das nur ihm gehört“, kommentierte der oppositionelle Wirtschaftsexperte und Politiker Wladimir Milow. Auch der Kremlchef steht trotz seiner triumphalen Wiederwahl vom März innenpolitisch unter Druck: Die Russen nehmen ihm eine Rentenreform nachhaltig übel.
Bei einem Sondertreffen von Nato- und EU-Botschaftern in Brüssel sollte es zunächst darum gehen, einen Überblick über die jüngsten Ereignisse zu bekommen, erklärte ein EU-Diplomat. Vor einer eindeutigen Bewertung oder gar Konsequenzen müsse eine Stellungnahme aus Moskau abgewartet werden. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) schlug eine deutsch-französische Vermittlung vor.