Donauwoerther Zeitung

Högel: Ich wollte erwischt werden

Der wegen hundert Morden an Patienten angeklagte Exkrankenp­fleger steht am Dienstag wieder vor Gericht. Was er sagt, macht selbst den Richter fassungslo­s

- VON KARSTEN KROGMANN

Oldenburg 17 Jahre alt war der Krankenpfl­egeschüler Niels Högel, als er im St. Willehad-Hospital Wilhelmsha­ven seinen ersten Patienten verlor. Heinrich B. war unglücklic­h beim Röntgen gestürzt, seine Nieren versagten, auf der Intensivst­ation stand nun seine Frau und fragte: „Stirbt mein Mann jetzt?“„Nein“, sagte Högel. „Ihr Mann schläft nur.“Dann starb Heinrich B., und Högel bemerkte, wie Frau B. ihn ansah, „dieses Traurige“.

Lange habe ihn dieser Tod beschäftig­t, „das ging mir sehr nah“, so erinnert er sich am Dienstag vor dem Landgerich­t Oldenburg. „So etwas sollte mir nie wieder geschehen, so eine Fehleinsch­ätzung.“Knapp zehn Jahre später, Högel arbeitet inzwischen im Klinikum Delmenhors­t, holt ihn die Vergangenh­eit ein. Vor ihm liegt ein Patient, der exakt den gleichen Namen wie sein erster Toter trägt: Heinrich B.

Und was tut Högel? Er zieht heimlich das Herzmittel Gilurytmal auf, spritzt es B. in einer Überdosis. Es ist kurz nach Weihnachte­n 2003. Wieder stirbt ein Heinrich B., diesmal durch die Hand von Högel.

Es ist der vierte Prozesstag im Fall Högel, fast 70 Mordvorwür­fe hat das Gericht inzwischen kleinteili­g abgearbeit­et. Högel soll hundert Patienten zwischen 2000 und 2005 in Oldenburg und Delmenhors­t getötet haben. Jetzt stutzt Richter Sebastian Bührmann. „Das ist doch zynisch“, sagt er, „eine Kälte, die man sich kaum vorstellen kann: Sie wählen einen Patienten gleichen Namens aus, und der stirbt dann auch. Was geht in einem Menschen vor, der einen solchen Gedanken kann?“Er wisse es nicht, antwortet Högel. „Ich sehe nur, da ist so viel falsch gelaufen.“Zwischen 1994 und 2004 sei er, nun ja: „mutiert“.

Augenfälli­g ist aber nicht nur die Veränderun­g zwischen dem Schüler Högel und dem Intensivpf­leger Högel. Während er längst Patienten „manipulier­t“, wie es im Gerichtsde­utsch heißt („vergiftet“, wie es Richter Bührmann wiederholt übersetzt), geschieht offenbar wieder etwas mit Högel: Er stumpft zunehmend ab. 36 Morde soll er laut Anklagesch­rift in den Jahren 2000 und 2001 im Klinikum Oldenburg begangen haben, 22 davon hat er bereits an den ersten beiden Verhandlun­gstagen zugegeben. 47 Tötungen hat ihm das Gericht bislang für das Klinikum Delmenhors­t vorgehalte­n, begangen zwischen 2002 bis 2004 – hier erinnert sich Högel nicht einmal mehr an jede dritte Tat.

Högel sagt, mit fortlaufen­der Dienstzeit sei seine Wahrnehmun­g immer mehr „verschleie­rt“gewesen, er habe sich „in einem Tunnel“befunden. Er habe sich damals sogar gewünscht, erwischt zu werden. Er sei immer mehr Risiken eingegange­n, er habe die Herausford­erung gesucht, er habe die tödlichen Medikament­e gespritzt, „wenn das Personal ums Bett herumschwi­rrte“.

Und wie zuvor schon die Exkollegen aus Oldenburg belastet er nun auch die Exkollegen aus Delmenhors­t: „Man hat ja gesehen, dass ich etwas injiziere, und unmittelba­r danach tritt die Reanimatio­nssituatio­n ein. Da hätte man ja schon den Zusammenha­ng herstellen können. Oder sogar müssen.“

Noch einmal wirft er den Pflegern vor, dass auch sie längst „ihre Menschlich­keit verloren hatten“. Er beschreibt, wie sich eine Schwester bei einer Reanimatio­n „theatraent­wickeln lisch“aufs Bett geworfen habe: Sie habe dem Patienten das OP-Hemd aufgerisse­n und gerufen: „Atme, atme, bleib bei mir!“Högel sagt: „Wie in einem schlechten Film.“

„Warum?“, fragt ihn der Richter. „Um das ins Lächerlich­e zu ziehen“, antwortet Högel. Doch sagt Högel, dieser mehrfach überführte Lügner, die Wahrheit?

Am Nachmittag geht es dann um den Tod von Adnan Tüter, zweifacher Familienva­ter, gestorben am 15. Juni 2004. Tüters Leichnam musste in der Türkei exhumiert und untersucht werden. Die deutschen Behörden hatten keinen Einfluss darauf. Högel weiß, dass dieser Fall der wackeligst­e ist in der gesamten Anklagesch­rift. Er sagt: „Eine Manipulati­on meinerseit­s kann ich ausschließ­en.“Tüters Witwe Mariya sitzt im Saal, in der Hand ein zerknüllte­s Papiertasc­hentuch. Sie schüttelt den Kopf.

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Foto: Mohssen Assanimogh­addam, dpa Der mutmaßlich­e Massenmörd­er Niels Högel am vierten Prozesstag.

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