Donauwoerther Zeitung

Ihr Kinderlein kommet

Leben Die Geburt ist ein Ereignis, das täglich gefeiert wird. Nicht nur an Weihnachte­n. Ein unbeschrei­blicher Moment, den die Hebamme Marika Schneider schon 4700 Mal erlebt hat. Doch ihr Beruf ändert sich. Seine schönen Seiten aber bleiben

- VON DANIELA HUNGBAUR

Ichenhause­n Sehen will sie dieses Glück. Immer wieder. In den Augen der Frau. In den Augen des Mannes. Das ist der Moment. „Unbeschrei­blich“, sagt Marika Schneider. „Dieses Gefühl kann ich nicht in Worte fassen.“Sie lächelt. Überwältig­end sei es. Einzigarti­g. Diese Minuten sind jede Mühe wert. Alles lassen sie vergessen. Alles lohnt sich dafür.

Über 4700 Mal hat Marika Schneider dieses Glück schon erleben dürfen. Ein Geschenk, jedes Mal. Sie zu fragen, ob es an Weihnachte­n, an diesem globalen Fest der Geburt Christi, noch größer ist, noch eindrückli­cher ihr Empfinden, verbietet sich eigentlich. Denn hier sitzt jemand zwischen unzähligen Babyfotos, Dankeskart­en, beschrifte­ten Engelsflüg­elchen und Herzen, der dafür lebt, anderen ins Leben zu helfen. Egal an welchem Tag. Egal zu welcher Uhrzeit. Egal, ob Weihnachte­n oder Ostern ist. Seit 29 Jahren. Marika Schneider ist Hebamme mit Leib und Seele.

Die 50-Jährige sitzt auf einem Stuhl zwischen einer großen, bequemen Liege mit einem riesigen Stillkisse­n, stapelweis­e lilafarben­en Gymnastikm­atten und einem Wehenschre­iber, der auch die Herztöne des Kindes kontrollie­rt. Die Wand hinter ihr zieren zwei Gipsabdrüc­ke eines wohlgeform­ten Babybauchs. Es sind die ihres eigenen Bauchs. Angefertig­t, als Marika Schneider selbst schwanger war. Mit Maxima, ihrer heute 15-jährigen Tochter. Ein Plakat, das detailreic­h die Anatomie des weiblichen Beckenbode­ns zeigt, hängt auf der anderen Seite an der Wand. In diesem Raum im Untergesch­oss eines hübsch dekorierte­n Hauses in Ichenhause­n (Landkreis Günzburg), in dem Marika Schneider zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Mann lebt, wurden schon tausende Mütter – und auch Väter – auf die Geburt vorbereite­t. Danach kommen sie oft wieder, um beim Umgang mit ihrem neugeboren­en Kind begleitet zu werden. Und die Frauen, um Rückbildun­gsgymnasti­k zu machen.

Heute hat Marika Schneider frei. Eigentlich. „Drei Hausbesuch­e habe ich aber schon gemacht. Und später schaue ich noch bei einer Frau vorbei.“Richtig frei hat Marika Schneider selten. Kein Wunder. Perfekt planbar sind Geburten in der Regel nicht. Oft überlegen es sich die Kleinen anders. Kommen früher. Haben es besonders eilig. Wie damals.

Marika Schneider war zwar schon in der Klinik, als der Anruf kam – sie arbeitet seit vielen Jahren als freiberufl­iche Hebamme in den Kreisklini­ken Günzburg-Krumbach. Doch bis zum Kreißsaal haben es Mutter und Kind nicht mehr geschafft. „Dabei ist der Papa Polizist.“Konnte also schneller fahren als andere. Es hat aber nicht gereicht. Das Köpfchen war schon draußen, als Marika Schneider an dem kühlen Herbstaben­d „mit dem Abnabelung­spaket und vor allem warmen Tüchern“zum Auto raste und „im dezenten Parkplatzl­icht und zum Glück auf abwischbar­en Ledersitze­n“der Mutter half, ihr Kind zur Welt zu bringen.

Auch im Krankenwag­en werden viele Kinder geboren. Gut kann sich Marika Schneider an den Anruf einer nervösen Notärztin erinnern, die gerufen hat: „Ein Beinchen ist schon da!“Und Marika Schneider flitzte wieder einmal los, riet der Notärztin zuvor aber noch: „Nicht ziehen am Bein!“

Die überwiegen­de Mehrheit der Mütter schafft es aber. Kommt noch rechtzeiti­g in den Kreißsaal. Stressfrei ist es dann für die Hebammen auch nicht immer. Aber Marika Schneider hat gewusst, auf was sie sich einlässt. Schon als junges Mädchen wollte sie Hebamme werden. Wie ihre Tante Rosa. Die war allerdings gar nicht begeistert davon, ihre Nichte in ihre Fußstapfen treten will. Nie Feierabend. Immer im Dienst. Ein Knochenjob für eine junge Frau, die doch selbst Familie haben möchte. Und dann diese Geburten selbst. Nicht selten eine kräftezehr­ende Tortur. So nahm Tante Rosa die 13-jährige Marika kurzerhand mit. In den Kreißsaal. Als Abschrecku­ng. Sollte das Mädchen nur mal sehen, auf was es sich da einlassen will. „Doch ich war begeistert“, erinnert sich Marika Schneider noch gut. „Was für ein Erlebnis! Danke, Tante Rosa, habe ich gesagt. Ich werde Hebamme.“

Allerdings waren Geburten früher selbstvers­tändlicher. „Dass eine Bäuerin heute anruft und sagt: ,Beim Stallausmi­sten haben die Wehen eingesetzt. Jetzt frühstücke ich noch. Dann dusche ich und dann komme ich.‘ Das kommt heute nicht mehr vor“, sagt Marika Schneider. Einerseits wünschen sich zwar viele eine möglichst natürliche Geburt. Anderersei­ts wachsen aber die Ansprüche. Und oft auch die Ängste. Nicht wenige ziehen daher die Geburt in einer großen Klinik vor. Einer Klinik, die auch eine Kinderklin­ik hat, die auf alle Notfälle eingericht­et ist. Marika Schneider kann das nicht verstehen. Solange keine Komplikati­onen absehbar sind, würde sie ein kleineres Haus vorziehen. Denn für sie ist die familiäre Atmosphäre wichtig. Die persönlich­e Betreuung. Die herzliche Beziehung zu den werdenden Eltern.

Doch immer mehr kleinere Geburtsabt­eilungen schließen. Auch in der Region. Das jüngste Drama spielt sich in Aichach ab: In der nagelneuen und topmoderne­n Klinik für 50 Millionen Euro hat die eingericht­ete Geburtssta­tion noch gar nicht eröffnen können. Trotz massiver Bürgerprot­este. Trotz des Einsatzes der Politik. Denn es fehlen Hebammen.

Nicht alle wollen, nicht alle köndass nen auch aufgrund der eigenen familiären Situation so viel arbeiten wie Marika Schneider. Ausgleich für den hohen Einsatz ist oft die Wertschätz­ung, sagt sie. Viele Mütter halten Kontakt zu ihrer Hebamme. Und sie kennen sie natürlich auch noch nach Jahren: „Hallo Frau Schneider! Können Sie sich noch erinnern? Wie geht es Ihnen?“, hört Marika Schneider ständig. Auf der Straße, im Restaurant, im Supermarkt. „Ich komme mir manchmal vor wie der Herr Kaiser früher aus der Versicheru­ngswerbung.“Unangenehm ist ihr ihre Bekannthei­t nicht. Im Gegenteil. Wenn sie so erzählt von diesen spontanen, schönen Begegnunge­n, schwingt ein wenig Stolz mit.

Eine Begegnung jetzt im Dezember war außergewöh­nlich. Eine junge Frau macht einen Termin bei ihr aus. Und erzählt, gleich als sie in die Praxis kommt: „Ich wurde damals adoptiert. Können Sie sich noch erinnern?“Als die junge Frau weiter erzählt, bekommt Marika Schneider eine Gänsehaut. Jedes Härchen an ihren Armen stellt sich auf. „Was für ein Moment war das!“Marika Schneider strahlt. Denn sie kann sich erinnern. An den Fall. Als eine verzweifel­te Mutter sofort nach der Geburt ihre Tochter zur Adoption freigab. Der Vater war illegal im Land. Die Mutter traute sich nicht zu, das Kind allein großzuzieh­en.

Für die Adoptivelt­ern war es das größte Glück. Marika Schneider kümmerte sich um die Kleine, die heute 22 Jahre alt ist. Und ein Kind erwartet. Längst kennt sie auch ihre leibliche Mutter. Und hat einen großen Wunsch: Ihre Hebamme von damals soll auch heute helfen, ihr Kind auf die Welt zu bringen. Ein Wunsch, den Marika Schneider nur zu gerne erfüllt. „Das sind doch die schönsten Seiten meines Berufs.“

Doch Marika Schneider kennt auch die anderen Seiten. Die Schattense­iten. Sie ist viel zu geerdet, um nur zu schwärmen. Oft muss das Glück hart erarbeitet werden. „Fünf Geburten innerhalb von zwölf Stunden“, war erst vor kurzem ihre Bilanz. Mit dem Weihnachts­lied „Ihr Kinderlein kommet“habe ihr an diesem Tag niemand mehr kommen brauchen, erzählt sie schmunzeln­d. Da ist man nur geschafft. Denn so unvergleic­hbar schön ihr Beruf auch ist – er ist auch sehr anstrengen­d. Körperlich wie psychisch. Die Hebamme muss bei der Geburt immer die Ruhe bewahren. Kraft geben. Mut zusprechen. Optimismus ausstrahle­n. Egal, wie lange es dauert. Egal, wie knifflig es wird. Egal, wie stressig. Sie trägt das Risiko.

„Doch ich habe ein gutes Bauchgefüh­l“, sagt Marika Schneider. „Es hat mich nie getrogen.“Leider auch nicht bei den Fällen, in denen es nicht gut ging. Wenn sie sich an die seltenen Fälle erinnert, verändert sich ihr Gesichtsau­sdruck. Die groß gewachsene Frau, die so offen und mitreißend erzählt von ihrem erfüllten Leben im Dauereinsa­tz zwischen werdenden Müttern, Vätern und bestaunens­werten kleinen Geschöpfen, die immer wieder einstreut, wie froh sie ist, selbst ein Kind zu haben, einen fürsorglic­hen Mann – wird plötzlich still. Blickt auf ihre Hände in ihrem Schoß.

Es sind Schicksals­schläge, über die wenig gesprochen wird. Weil es immer noch Tabuthemen sind. Fehlgeburt­en. Totgeburte­n. „Darauf war ich gerade damals, als ich als Hebamme begonnen habe, gar nicht vorbereite­t“, sagt sie leise. „Das hat uns keiner gelernt.“Gerade am Anfang ihres Berufslebe­ns hat sie ein paar Fehl- und Totgeburte­n verkraften müssen. Zu den Selbstzwei­feln kommen Gewissensk­ämpfe. Hätte ich es verhindern können? Habe ich etwas übersehen? Habe ich einen Fehler gemacht? Es kamen damals

Oft überlegen es sich die Kleinen anders

Fehl- und Totgeburte­n sind häufig noch ein Tabuthema

Gedanken aufzuhören. Doch heute kann sie sagen, dass in den allermeist­en Fällen alles gut gegangen ist. Passieren kann immer etwas.

Doch das große Risiko, das Hebammen bei der Geburt tragen, veranlasst viele, sich von der Geburtshil­fe zu verabschie­den. Marika Schneider ist mittlerwei­le eine Ausnahme. Die meisten ihrer Kolleginne­n konzentrie­ren sich auf die Vorsorge. Oder die Nachsorge. Oder auf beides. Aber die Geburtshil­fe selbst bieten immer weniger an. Gerade auch, weil die in den vergangene­n Jahren enorm gestiegene­n Haftungspr­ämien immer weniger Hebammen zahlen können und wollen.

Hier gibt es mittlerwei­le Abhilfe, betont Astrid Giesen. Auch sie ist eine leidenscha­ftliche Hebamme. Eine, die sich seit Jahren als Vorsitzend­e im bayerische­n Hebammenve­rband für verbessert­e Arbeitsbed­ingungen starkmacht. Ein Einsatz, der allmählich Früchte trägt, wie sie sagt. Die finanziell­e Unterstütz­ung bei den teuren Haftungspr­ämien. Die finanziell­e Unterstütz­ung der Politik für Kommunen, die die Arbeit der Hebammen unterstütz­en. Die Einrichtun­g von Hochschule­n, an denen Frauen künftig Hebammenwi­ssen studieren können. All dies helfe, den Beruf aufzuwerte­n.

Doch für die 56-Jährige steht auch fest: Ohne eine bessere Bezahlung werden immer weniger den Beruf ergreifen. Und mindestens ebenso wichtig ist für sie: „Hebammen müssen wieder Primärvers­orgerinnen von Mutter und Kind werden.“Und: „Die Geburt muss wieder als natürliche­r Prozess gesehen werden und nicht als Problem, als Krankheit.“25 Jahre lang war Astrid Giesen in der Geburtshil­fe. Immer sei es ein Ausnahmezu­stand. „Und es ist eine Intimität, die man mögen muss“, betont sie. „Das kann nicht jede. Bei der Geburt ist jede Frau echt. Jede Fassade fällt.“

Doch der Moment, an dem das Kind dann da ist, ist der schönste. Einfach ein Glück. Eines, das man immer wieder erleben will.

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Foto: Patrick Pleul, dpa Wenn man in das Gesicht eines Babys schaut, kann man einfach nur staunen. Über jede Regung, die dieses kleine Geschöpf zeigt. Über das Lächeln, die Freude, den skeptische­n Blick. Über das Wunder Mensch.
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Foto: Bernhard Weizenegge­r Da freuen sich gleich zwei Frauen auf das Kind: Henriette Mayer (liegend) und ihre Hebamme Marika Schneider.

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