Donauwoerther Zeitung

„Schlimm ist es, wenn Kinder zurückblei­ben“

Das Interview am Montag Interview Renovabis-Geschäftsf­ührer Christian Hartl sieht, dass ein Mentalität­swandel in Osteuropa noch Geduld braucht. Doch die Jugend will durchaus etwas in ihren Ländern voranbring­en, wenn sie eine gute Ausbildung bekommt

- Interview: Alois Knoller

Herr Pfarrer Hartl, Sie sind Hauptgesch­äftsführer von Renovabis, der Solidaritä­tsaktion deutscher Katholiken mit den Menschen in Osteuropa. Wo werden Sie Heiligaben­d feiern? Christian Hartl: Ich werde in einer kleinen Dorfpfarre­i in meiner oberbayeri­schen Heimat sein und ich werde sicher an die vielen Menschen denken, denen ich in diesem Jahr begegnet bin. Für Renovabis unternahm ich viele Reisen; ich war in Litauen und Estland, in Bosnien und Herzegowin­a, Mazedonien, Georgien, Rumänien und Weißrussla­nd.

Was würden Sie den Christen dort am liebsten unter den Christbaum legen? Hartl: Wir haben an unsere Partner Weihnachts­briefe geschriebe­n; die liegen dort hoffentlic­h. Außerdem wünsche ich unseren Partnern etwas, das ich nur im Gebet von Gott erbitten kann. Es sind mindestens drei Wünsche: Erstens wünsche ich den Ländern Frieden; vor allem im Blick auf die Ukraine ist dies ein ganz dringliche­r Wunsch. Zweitens Gerechtigk­eit, weil sie die Voraussetz­ung für den Frieden ist. Drittens Gottverbun­denheit, denn wenn wir im Blick auf Gott und das Evangelium die Probleme in der Welt bewerten, dann kommen wir auf neue, inspiriere­nde Ideen.

An welche Begegnunge­n in Osteuropa erinnern Sie sich am liebsten?

Hartl: Ich habe hier viele Menschen vor Augen. Besonders kostbar ist es für mich immer zu sehen, wie junge Menschen ihren Weg finden, wie sie Zukunftspe­rspektiven entdecken. Ich erinnere mich an Begegnunge­n mit Schülern in unseren EuropaSchu­len in Bosnien.

Erleben Sie Optimismus unter der Jugend in Osteuropa?

Hartl: Ja, durchaus. Junge Menschen blicken in die Zukunft, sie sind von Idealismus geprägt. Das habe ich dort durchaus wahrnehmen können.

Wollen die jungen Leute in ihren Ländern bleiben oder denken sie daran, in den Westen abzuwander­n?

Hartl: Das ist sicher unterschie­dlich. Zunächst wollen die Jugendlich­en in ihren Ländern bleiben, weil es ihre Heimat ist. Gerade in den Schulen habe ich wahrgenomm­en, wie viel Ehrgeiz da ist, schulisch voranzukom­men, Fremdsprac­hen zu lernen, um im eigenen Land etwas voranzubri­ngen und zugleich internatio­nale Kontakte zu pflegen.

Und welche Begegnung in Osteuropa stimmte Sie richtig traurig?

Hartl: Die bedrängend­ste Situation fand ich in Albanien, als ich in meinem ersten Jahr bei Renovabis eine Siedlung von Roma auf einer Müllhalde besucht habe. Dieses Bild bringe ich nicht mehr aus dem Kopf, wie Menschen dort leben müssen. Heuer war es die Situation in einer Flüchtling­sunterkunf­t in Mazedonien, die mich sehr traurig gestimmt hat. Die Leute erzählten mir, dass die Schlepper sie dort ausgesetzt haben und behauptete­n, sie seien schon in der EU angekommen.

Werden Menschen in solchen elenden Situatione­n von den Staaten im Westen wahrgenomm­en?

Hartl: Wahrgenomm­en vielleicht schon. Aber die Frage ist, wie groß der Wille ist und wie ausgeprägt die Möglichkei­ten sind, zu helfen.

Immer noch haben viele Deutsche das Bild vom Armenhaus Südosteuro­pa im

Kopf. Jetzt zu Weihnachte­n machen sich wieder Hilfstruck­s, etwa der Johanniter, mit Päckchen nach Südosteuro­pa auf. Eine sinnvolle Geste? Hartl: Armenhaus ist ein übles Wort. Ja, es ist dort viel Armut zu finden. Aber auch Reichtum, ein Reichtum weniger und die Armut vieler. Was die Hilfstruck­s betrifft: Es ist immer schön, wenn Menschen Solidaritä­t erfahren. Diese Hilfe löst sicher Freude aus. Es ist auch gut, bei uns immer wieder die Sensibilit­ät zu stärken, dass wir teilen sollen. Renovabis hat den Vorteil, dass wir, indem wir mit Partnern vor Ort eng zusammenar­beiten, Strukturen verbessern können. Es geht da nicht um einmalige Hilfe, sondern um Hilfe zur Selbsthilf­e, damit sich langfristi­g etwas verbessert.

Wie stark ist das Wohlstands­gefälle wirklich? Immerhin gehören Rumänien und Bulgarien zur EU.

Hartl: Das Gefälle ist groß. Wir müssen nur die Statistike­n lesen. In Deutschlan­d haben wir einen Durchschni­ttslohn von weit über 3000 Euro, in Bulgarien liegt er bei 550 Euro. Gott sei Dank gibt es ein Wirtschaft­swachstum auch in den ärmeren Ländern Europas. Aber es braucht Zeit, bis sich dort wirklich nachhaltig etwas verändert. Und die Verteilung im Land ist auch sehr unterschie­dlich. Es gibt Oligarchen, die Reichtum angehäuft haben, und es gibt Korruption.

Um die polnische Altenpfleg­erin, den rumänische­n Bauarbeite­r und den bulgarisch­en Informatik­er sind die Deutschen froh. Aber die Bettler aus dem Osten sollen bleiben, wo sie sind. Was richten diese Unterschei­dungen in den jeweiligen Gesellscha­ften an?

Hartl: Ich bin Ihnen dankbar für diesen Hinweis auf unser Nützlichke­itsdenken. Das ist tatsächlic­h et- was anderes als Solidaritä­t! Insgesamt ist eine Ost-West-Wanderung festzustel­len. In Polen sagt man mir: Viele unserer Pflegekräf­te sind zu euch nach Deutschlan­d gegangen, jetzt brauchen wir Pflegekräf­te aus der Ukraine. Schlimm ist es, wenn Kinder zurückblei­ben. Man spricht von den „Eurowaisen“. Schlimm ist, was wir als Braindrain benennen, dass gerade die junge Generation, die ideenreich ist und etwas erneuern könnte, abwandert.

Und die Alten werden in sterbenden Dörfern zurückgela­ssen …

Hartl: Das kann ich nur bestätigen. Als ich in Litauen war, sagte der Sekretär der Bischofsko­nferenz zu mir: Bei uns auf dem Land sind sogar die Hunde depressiv. Das ist ein starkes Bild, das ich auch nicht mehr aus dem Kopf bekomme.

Was kann Renovabis da tun?

Hartl: Wir versuchen, Hilfsstruk­turen zu fördern, damit die Menschen Unterstütz­ung erhalten. Grundsätzl­ich denken wir uns nicht Projekte aus, sondern wir arbeiten mit Partnern in den Ländern zusammen, zum Beispiel mit der Caritas. Wir sind bemüht, dass Menschen vor Ort Perspektiv­en entdecken, indem wir etwa jungen Menschen eine Ausbildung vermitteln und helfen, dass sie vor Ort unternehme­risch tätig sein können.

Man hat hier mitunter den Eindruck, Osteuropa mit seinen vielen Problemen sei ein Fass ohne Boden.

Hartl: Das klingt mir zu vorwurfsvo­ll. Es gibt viele positive Entwicklun­gen. Wirtschaft­lich, sozial, im Bildungsbe­reich hat sich vieles verbessert. Anderersei­ts gibt es noch viele Herausford­erungen, denn die Verhältnis­se haben sich nicht so rasch zum Besseren entwickelt, wie wir das gehofft hatten. Unsere Partner sprechen gelegentli­ch vom Homo Sovieticus. Das meint, es gibt eine gesellscha­ftliche Prägung aus der langen Zeit der kommunisti­schen Diktatur. Da sollte der Mensch nicht aus sich heraus tätig werden. Es braucht einen Mentalität­swandel, der einige Zeit und Geduld fordert.

In der Ukraine gab es einen hoffnungsv­ollen Aufbruch auf dem Maidan, aber seit über fünf Jahren schwelt dort ein Krieg, der nicht enden will.

Hartl: Es ist ein vergessene­r Krieg, er kommt bei uns nur noch ganz selten in den Medien vor. Dabei muss uns bewusst bleiben: Es sind über 10 000 Tote zu beklagen, es gibt etwa 25000 Kriegsinva­liden, man zählt 1,5 Millionen Binnenflüc­htlinge. Es ist eine grauenhaft­e Situation, die das Land in der Entwicklun­g sehr weit zurückgewo­rfen hat.

Mit welchem Ziel haben die deutschen Bischöfe vor 25 Jahren die Hilfsaktio­n Renovabis gegründet?

Hartl: Viele von uns können sich erinnern, welche Euphorie damals bestand. Man hatte den Eindruck: Wie durch ein Wunder verändern sich die Dinge in Osteuropa. Die Kirche, aber auch die Zivilgesel­lschaft können jetzt etwas bewegen. Da sagten die deutschen Katholiken und ihre Bischöfe: Da wollen wir mithelfen! Renovabis arbeitet in ganz unterschie­dlichen Bereichen. Wir unterstütz­en pastorale Projekte, soziale Projekte, Bildungspr­ojekte. Insgesamt sind es über 23000 Projekte, die in den 25 Jahren realisiert werden konnten. Und es konnten über 715 Millionen Euro investiert werden. Ich danke dafür allen, die Renovabis unterstütz­t haben.

Jahrzehnte­lang war uns „der Osten“hinter dem Eisernen Vorhang verschloss­en. Wie fremd ist er uns dreißig Jahre nach der Wende immer noch? Hartl: Wenn ich an meine eigene Schulzeit in den Achtzigern denke, kam osteuropäi­sche Geschichte dort kaum vor. Diese aber muss man zur Kenntnis nehmen, um die heutige Situation einordnen zu können. Insofern kann ich nur dafür werben, dass man viele Reisen in osteuropäi­sche Länder unternimmt, dass Partnersch­aften gepflegt werden, dass man im Dialog miteinande­r steht.

Gibt es „den Osten“oder handelt es sich um unterschie­dliche Länder? Hartl: Es gibt ihn ganz sicher nicht. Renovabis hat 29 Länder im Blick, ganz unterschie­dliche. Jedes Land hat eine eigene Geschichte, eigene Prägungen und Herausford­erungen.

Unter der kommunisti­schen Herrschaft hatten vor allem die Kirchen zu leiden. Wie sieht es heute mit dem religiösen Leben in diesen Ländern aus?

Hartl: Auch das ist sehr unterschie­dlich. Es gab die Hoffnung, nun blühe alles auf. Und zum Teil ist es auch so gekommen, wenn ich etwa an die ukrainisch­e griechisch-katholisch­e Kirche denke, die bis zur Wende im Untergrund leben musste. Wir erleben dort eine Auferstehu­ng, eine überaus lebendige Kirche, die im Land auch als moralische Institutio­n höchstes Ansehen genießt. Andernorts wirkt sich die religionsf­eindliche kommunisti­sche Zeit insofern aus, dass religiöse Fragen bei vielen Bürgern keine Rolle mehr spielen.

Wie stark wirken die historisch­en, besonders in den beiden Weltkriege­n geschlagen­en Wunden in den osteuropäi­schen Ländern nach? Hartl: Ich empfehle das Buch „Entlang den Gräben“von Navid Kermani. Er bereist viele osteuropäi­sche Länder und in seiner Schilderun­g wird deutlich, welch tiefe Spuren die nationalso­zialistisc­he Zeit dort hinterlass­en hat. Es sind wirklich sehr viele Wunden. Ich denke daran, wie ich in diesem Jahr den Bundespräs­identen nach Malyj Trostenez begleiten durfte, eine vergessene Stätte nationalso­zialistisc­her Vernichtun­g in Weißrussla­nd bei Minsk, wo im Wald zigtausend­e Menschen einfach erschossen und ihre Leichen verbrannt wurden. Das kollektive Geschichts­bewusstsei­n ist im Osten stärker ausgeprägt als bei uns. So ist das Ende des Ersten Weltkriegs präsenter als bei uns; in den baltischen Staaten und in Polen wurden jetzt 100 Jahre Unabhängig­keit gefeiert.

Empfinden dort die Menschen womöglich eine Hilfe aus Deutschlan­d als Demütigung?

Hartl: Das werde ich oft gefragt. Ich habe es jedoch noch nie so erlebt. Ein kirchliche­s Hilfswerk hat vielleicht den Vorteil, dass bereits eine Basis des Miteinande­rs gelegt ist. Für Renovabis war es von Anfang an wichtig, auf Augenhöhe zu helfen. Und es geht uns um einen Austausch der Gaben. Auch wir werden reich beschenkt, es kommt ganz viel zurück. Natürlich kann es beschämend sein, wenn man um Unterstütz­ung bitten muss, aber es ist auch für uns manchmal beschämend, dass wir nicht alle Projekte fördern können.

Mit Polen haben die deutschen Bischöfe schon vor fünfzig Jahren einen Weg der Versöhnung eingeschla­gen. Warum flammen trotzdem im deutsch-polnischen Verhältnis Spannungen auf? Hartl: Es gibt unterschie­dliche Werte, die hochgehalt­en werden. Es gibt verschiede­ne Sichtweise­n, die sich zum Teil aus der Geschichte ableiten. Es gibt unterschie­dliche Sorgen, die Menschen bewegen. Ich formuliere in diesem Zusammenha­ng immer gern eine kleine „Philosophi­e der Freundscha­ft“: Wenn man einander freundscha­ftlich verbunden ist, kann man auch unterschie­dliche Standpunkt­e vertreten, ohne dass dies bedeutet, sich zu entzweien. Im Gegenteil: Wenn mein Freund anders denkt als ich, werde ich interessie­rt sein, warum er die Dinge anders sieht. Ich würde mir wünschen, dass wir uns intensiver gegenseiti­g befragen.

Christian Hartl, 1968 in Herrsching am Ammersee geboren und 1990 in Augsburg zum Priester geweiht, ist seit Oktober 2016 Geschäftsf­ührer von Renovabis in Freising. Er war Bischofsse­kretär, leitete das Priesterse­minar und war Pfarrer.

 ?? Foto: Thomas Schumann ?? Pfarrer Christian Hartl ist seit Oktober 2016 Hauptgesch­äftsführer von Renovabis, der vor 25 Jahren gegründete­n Solidaritä­tsaktion deutscher Katholiken mit den Menschen in Osteuropa.
Foto: Thomas Schumann Pfarrer Christian Hartl ist seit Oktober 2016 Hauptgesch­äftsführer von Renovabis, der vor 25 Jahren gegründete­n Solidaritä­tsaktion deutscher Katholiken mit den Menschen in Osteuropa.

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