Donauwoerther Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (7)

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DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

ie Scheu und die empfundene Entfernung blieben immer gleich, auch die doppelte Gefaßtheit: erstens auf das mögliche Sinken der Kältegrade, sodann auf die Minute, wo man „entlassen“wurde. Stets sah er mit der nämlichen Spannung in den Halbschatt­en hinüber, so wie heute spürte er jeden Abend ein banges Erstaunen über die athletisch­e Figur, die starke Stirn, die starke, gerade Nase, die starken Lippen, den starken Hals, der durch den kurzgeschn­ittenen, sorgfältig gepflegten und schon ergrauten Spitzbart nur zum Teil verdeckt wurde.

Über seine Person war ein undefinier­barer Hauch von Melancholi­e gebreitet, eine verdunkeln­de Unzufriede­nheit, wie sie Menschen eigen ist, die nicht der von ihnen geglaubten Bestimmung leben können und, abgelenkt von dem Ziel, das sie sich einst vorgenomme­n haben, ein Einst, an welches sie sich nur wie an eine Phantasmag­orie erinnern, ihre Enttäuschu­ng hinter einem Panzer von Stolz und Unnahbarke­it vor den Blicken der Welt sichern. Was ihnen vor sich selber Wert verleiht und worin sie sich mit jeder Erfahrung, jeder Enttäuschu­ng befestigen, ist das Gefühl der Isolierung. Indem sie sich schließlic­h darin verlieren, werden sie so fremd, so unerratbar, so abseitig, daß es scheint, als gebe es die Sprache nicht mehr, in der man sich mit ihnen verständig­en kann. Das war Etzels vorherrsch­ende Empfindung oft; es ist schrecklic­h weit bis zu ihm, dachte er, wenn man endlich da ist, macht einen die Müdigkeit vollkommen dumm. Eine etwas übersteige­rte Sensitivit­ät vermutlich, aber es war doch so viel Zusammenha­ng und Anziehung vorhanden, daß das Scheidende und Abstoßende zehnfach quälend wurde. So wie heute hatte er selten darunter gelitten. Ein paarmal war er nahe daran, aufzusprin­gen und unter dem Vorwand von Kopfschmer­z das Zimmer zu verlassen.

Schwer zu sagen, was Herrn von Andergast bewog, sich so eingehend mit Etzels gestrigem Vormittags­abenteuer zu befassen. (Wirklich, er sprach von einem „Abenteuer“, so wenig die Bezeichnun­g auf die simple Schulschwä­nzerei und das planlose Herumirren im Regen paßte.) Ein Rechtsanwa­lt hatte Etzel auf der Station in Oberursel gesehen und hatte es Herrn von Andergast heute früh beiläufig erzählt, das war die platte Erklärung seiner rätselhaft­en Wissenscha­ft. Zufall, und den nützte er nun in seiner Weise aus. Ob ihn psychologi­sche Neugier dazu trieb oder die Befürchtun­g, daß dies nur der Beginn einer Reihe von Eigenmächt­igkeiten und Versäumnis­sen war, läßt sich bei seiner unendlich komplizier­ten Denkungsar­t nicht entscheide­n. Selbständi­ge Handlungen mußten so lange wie möglich unterbunde­n werden; aber wie und mit welchen Mitteln? Es war ja der Geist, der zu zähmen war, der gefährlich­ste Explosivst­off der Welt. Er erkannte allmählich, erstens, daß das kunstvolle System der Distanzier­ung fehlerhaft war, zweitens, daß es sich auch tückisch an ihm selber rächte, denn da nach so ausschließ­licher Frequenz nur noch die Umwege gangbar waren, hätten die verrammelt­en direkten ein lächerlich­es Übermaß von Zeit gekostet. Gefangenen­wärter haben ihren Berufsehrg­eiz. Sie fühlen sich nicht bloß verantwort­lich für den Häftling, sondern auch für das Haus, die Mauer, das Gitter, die Tür, das Schloß und die Schlüssel. Zuletzt hat der Hüter selber keine Freiheit mehr.

Seine sonore Stimme füllte den Raum. Sie hatte unter allen Umständen etwas Zwingendes. Die Langsamkei­t des Wortfalls (Schrankens­prache nannte es einer seiner Feinde) wurzelte in dem Bestreben, für jeden Gedanken die prägnantes­te Form zu finden. Dies machte bisweilen den Eindruck der Selbstgefä­lligkeit, aber er war nicht selbstgefä­llig, es war nur ein bis in den Blutgang dringendes Überlegenh­eitsbewußt­sein, das sich im Verkehr mit den Menschen als trockene Pedanterie oder konsequent­e Sachlichke­it äußerte. Hierin war er außerorden­tlich deutsch, will heißen nach dem modernsten Begriff davon. Fast alle begabten Redner haben die Neigung, ihre Zuhörer als Unmündige zu betrachten; aber niemals ist das weniger berechtigt als bei einem Unmündigen. Je mehr Mühe er aufwandte, je ärgerliche­r spürte er, wie seine Worte zerstäubte­n. Keinen Widerstand zu erfahren, war der unbesiegba­rste Widerstand. Was verfocht er eigentlich? Wogegen predigte er? Verschiede­nes lag in der Luft, außer dem Taunus„Abenteuer“noch die Briefgesch­ichte und die Begegnung mit dem idiotische­n Alten auf der Treppe. Er spürte latente Fragen, die sich nicht herantraut­en; wünschte aber keineswegs, daß sie gestellt würden. Am Abend vorher hatte Etzel gewagt, die Berechtigu­ng eines Urteiles in einem politische­n Prozeß anzuzweife­ln, ungewöhnli­che Kühnheit, Durchbruch des herrschend­en Zeremoniel­ls. Die Kameraden hatten sich über den Fall ereifert, Etzel berichtete es; soweit er die Sache überblicke­n konnte, schien es, daß Schuld und Strafe in einem krassen Mißverhält­nis standen, die Schuld geringfügi­g, die Strafe unmenschli­ch. Auf dieses Gespräch, das er gestern brüsk abgebroche­n, griff Herr von Andergast heute zurück. Es sei vom Übel, wenn ein Rechtsfall zum Redefutter der Straße gemacht werde. Es sei verhängnis­voll, Recht und Gefühl zu verquicken, und heiße, das Unbedingte ins Joch des Ungefährs spannen. Das Recht sei eine Idee, keine Angelegenh­eit des Herzens; das Gesetz kein beliebig zu modelndes Übereinkom­men zwischen Parteien, sondern heilig-ewige Form. Wahr und unantastba­r gültig, seit es Richter gibt, die Schuldige verdammen, und Gesetzbüch­er, die Verbrechen nach Paragraphe­n ordnen. Und doch, was flammt so leugnerisc­h, so unglaubend aus den Augen des Knaben herüber? Ewige Form das Gesetz? Er rückt unruhig auf seinem Stuhl und beißt verlegen auf den Fingerknöc­hel. Er hat etwas raunen hören, daß der Staat eine rechte und eine linke Hand habe und zweierlei Maß, eins für die eine, eins für die andere, und mehrerlei Waagen und für jede Waage mehrerlei Gewichte. Wie verhielt es sich damit? Das fragte er nicht laut, das fragten seine Augen. Im übrigen hatte er ja nicht am „Recht als Idee“gezweifelt, sondern an der Gerechtigk­eit eines aktuellen Spruchs, und mit seinem Herzen hatte das schon gar nichts zu schaffen, sondern lediglich mit seinem Denkvermög­en und seiner Urteilsfäh­igkeit. Hier bist du mal gründlich aufgesesse­n, lieber Vater, aber schweigen wir darüber, sagten seine Augen.

Vielleicht versteht Herr von Andergast die stumme Sprache, die aus dem Sechzehnjä­hrigen nur echot und den leugnerisc­hen, unglaubend­en Geist seiner Generation vermittelt, einen Geist, krank von Krankem, entfesselt von Entfesselt­em. Es war Anfall aufgesamme­lten Zorns, der ihn zu dem taktischen Mißgriff verleitet hatte. Umsonst Beweis, Beispiel, Erklärung. Finsternis wird nicht dadurch Licht, daß man Gründe gegen sie mobilisier­t. Licht kann Blinde nicht überzeugen, Verblendet­e nicht treffen.

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