Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte
Er war froh gewesen, als er aus dem Reservelazarett in der Schillerschule in das der Elias-Holl-Schule versetzt wurde. Direkt hinter der Schillerschule verlief ein Bahngleis, und in den drei Wochen, die er dort seinen Dienst als Militärkrankenwärter hatte ableisten müssen, waren täglich waggonweise Schwerverwundete aus dem Elsass eingetroffen. Die Station D dagegen, die in der Elias-Holl-Schule ihr Quartier aufgeschlagen hatte, war für Soldaten mit Geschlechtskrankheiten reserviert.
„Ich hoffe, Sie sind nicht zimperlich, Brecht“, hatte Dr. Raff an seinem ersten Tag gesagt, und er hatte gegrinst und eine spöttische Bemerkung darüber gemacht, wie seiner Ansicht nach der Tripper im Mann das wahre Antlitz der Menschheit hervorbrächte. In Wahrheit war es schlicht und einfach so, dass er immer noch Albträume hatte, in denen es sein eigener Körper war, der in der Schillerschule zusammengeflickt wurde. Krankengeschichten über Gonorrhö für Raff abzutippen und den armen Schweinen neues abgekochtes Wasser zu bringen, war nichts im Vergleich dazu, täglich zerfetzte Körper mit Jod auszupinseln.
Nach einem Monat, in dem der Krieg endlich beendet worden und eine Republik ausgerufen war, hielt sich seine Dankbarkeit allerdings sehr in Grenzen. Er hoffte, so bald wie möglich ausgemustert zu werden. Dann würde er Augsburg hinter sich lassen, zurück nach München gehen und wieder versuchen, jemanden zu finden, der sein Stück aufführte. Als er nach dem Notabitur im letzten Jahr angefangen hatte, in München zu studieren, war ihm die Angst vor der Einberufung im Nacken gesessen. Auch deswegen hatte er als Fach Medizin gewählt. Ärzte wurden fast so dringend gebraucht wie Soldaten. Aber jetzt war der
Krieg vorbei und er plante viel mit seinem Leben, aber eine Laufbahn als angesehener Arzt, so wie seine Mutter sich das vorstellte, die war nicht darunter.
Dr. Raff zog nicht einmal mehr die Augenbrauen hoch, als Brecht sich bei ihm meldete; er ließ ihm die gelben Halbschuhe und den Pullover statt des vorgeschriebenen Jacketts mit Kopfbedeckung durchgehen. Es war kalt, und Brecht war nicht der einzige Krankenwärter, der auf Zivilkleidung zurückgriff. Der Winter würde hart werden.
Dafür hatte er unangenehme Neuigkeiten. „Sie sind für die Weihnachtswoche zum Dienst eingeteilt“, sagte er, nachdem sie sich begrüßt hatten.
„Das ist nicht Ihr Ernst“, sagte Brecht entgeistert.
„War’s nicht, bis Sie die Stirn hatten, mir den abendlichen Rapport vom Dienstmädchen Ihrer Eltern schicken zu lassen“, entgegnete Raff trocken. „Ich habe hier keine Favoriten, Brecht.“
Natürlich hatte er welche, und der Sohn des Papierfabrikdirektors gehörte dazu. Offenbar hatten sich andere Krankenwärter beschwert, und Raff wollte etwas beweisen. Da ihn der Chefarzt bisher wirklich mit Nachsicht behandelt hatte, konnte ihn Brecht gerechterweise noch nicht einmal verwünschen, obwohl er es innerlich trotzdem tat. Schlecht gelaunt ging er daran, die Personalien der Neuzugänge aufzunehmen. Die gab es nun, da der Krieg vorbei war, erst recht. All die Soldaten, die vorher als noch kampffähig eingestuft worden waren.
Als er die Personalien eines Neuzugangs aufnahm, was zu seinen Pflichten gehörte, kniff der die Augen zusammen und sagte: „Mensch, bist du nicht der Eugen aus der Bleichstraße?“
„Bert“, murmelte er und kniff seinerseits die Augen zusammen. Das Gesicht vor ihm hatte nichts eigentlich Vertrautes. Jedenfalls nicht von seiner Kindheit her. Die langfristigen Spuren von Senfgas auf der Haut erkannte er mittlerweile nur allzu gut.
„Wie?“
„Hab meinen Namen geändert“, sagte er, „den Eugen auf Rente geschickt und den Bertolt aktiviert. Und du bist immer noch der...?“
„Der Lesker Hans“, gab der andere zurück und lachte, mit dem trockenen, abgehackten Husten, den seine teilweise zerstörten Schleimhäute noch hergaben. „Erkennst mich nicht, wie? Dabei haben wir euch mehr als einmal verdroschen, dich und den Orge und den Mädi.“
Langsam regte sich etwas in seinem Gedächtnis. Hans Lesker, der unbedingt Winnetou hatte sein und es nicht hatte hinnehmen wollen, dass der kleine Eugen Brecht das Kommando an sich gerissen und ihn stattdessen zum schurkischen Kiowa-Häuptling Tangua degradiert hatte.
Hans Lesker war gerade so alt wie er, also mittlerweile zwanzig Jahre.
Selbst, wenn man die momentanen Krankheitssymptome und die Langzeit-Gasschäden wegrechnete, sah er aus wie mindestens dreißig.
„Jetzt mal halblang“, sagte Brecht so nonchalant wie möglich, um den tiefen Schrecken zu überspielen, der ihm in die Glieder gefahren war. „Wir haben euch verdroschen, nicht umgekehrt. Die Apatschen gewinnen immer.“
Leskers Mund mit den Verätzungen verzog sich zur Grimasse eines Lächelns.
„Dachten wir auch vom Reich. Wo warst du, vorher? Ostfront oder Westfront? „ „Hier“, entgegnete Brecht. „Ich war hier.“„Und hast Spucknäpfe gereinigt, während sie uns die Glieder zerschossen haben?“Sein Mund bewegte sich nochmals; dann spie er Brecht ins Gesicht.
Ich habe einen Herzfehler, hätte Brecht sagen können, wenn er nicht entschlossen wäre, dergleichen bürgerliche Schwäche hinter sich zu lassen, und sich für nichts, aber auch gar nichts in seinem Leben zu entschuldigen. Oder: Wir waren alle übergeschnappt, mich eingeschlossen, als wir uns für den Krieg begeistert haben, damals, als es losging, aber ich bin erwachsen geworden – du nicht?
Sein jüngerer Bruder Walter war zum Schluss noch nach Frankreich geschickt worden. Sein Freund Cas war da schon Jahre dabei gewesen, war zwar lebend zurückgekehrt, aber hatte es nicht geschafft, auf den Plärrer zu gehen, ohne in einen Weinkrampf auszubrechen, der furchtlose Cas, der immer der Größte, Stärkste im Freundeskreis gewesen war.
„In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“, entgegnete Brecht, wischte sich den Speichel ab. „Aber mich gibt’s noch, wenn ihr alle in Blut und Tränen ersoffen seid. Und jetzt raus damit, wann hast du das letzte Mal gevögelt? Das brauche ich für deine Akte.“
Etwas, das der Dienst als Militärkrankenwärter bewirkt hatte, war, ihm die Spielregeln im Umgang mit Männern aller Klassen beizubringen. Der Schuljunge, der er einmal gewesen war, hatte sich noch brav von seiner Mutter zur Konfirmation drängen lassen und es für kühn und abenteuerlich gehalten, Wedekind zu lesen. Irgendwo zwischen dem Reinigen von Beinstümpfen und dem Abtippen von Todeslisten war ihm dieses alte Selbst verloren gegangen und er vermisste es nicht. Ruhe in Unfrieden, Eugen. Bert ist ein freier Mensch, frei von Illusionen und Scham.
Nur, dass er trotzdem manchmal mit klopfendem Herzen aufwachte und überzeugt war, die Nacht nicht zu überleben, weil er einen Tod schuldete.
Lesker gab ihm kurz angebunden Auskunft und Brecht machte sich Notizen. Noch ein paar Wochen, dachte er, nur noch ein paar Wochen, dann gibt’s Verwundete für mich nur noch in Beschreibungen, und die einzige Kranke, die mich noch schert, ist Mama. Ihm fiel ein, dass die Leskers immer noch in der Klauckestraße wohnen mussten, denn Frau Lesker hatte sich tatsächlich erst neulich mit einem Gebetbuch bei seiner Mutter blicken lassen, seiner Mutter, von der alle wussten, dass sie das nächste Jahr nicht überleben würde. „Kann sein, dass der Raff dich für die Feiertage rauslässt“, sagte er und versuchte sich an der Kaltschnäuzigkeit, die ihm immer
Nach einem Monat hielt sich seine Dankbarkeit in Grenzen