Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (9)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Aber ich sehe in dich hinein, ich bin überrascht, ich bin sehr überrascht, ich wünschte, ich hätte dich nicht ohne Maske erblickt.
Er faltete den Brief zusammen, steckte ihn in einen Umschlag, schrieb darauf: „An meine Mutter, ich weiß nicht wo“, und schob ihn in ein Geheimfach, das er sich in der Schublade seines Arbeitstisches selbst angefertigt hatte und worin noch andere Papiere lagen, Notizen, Aufzeichnungen, Gedichte und als besondere Kostbarkeit zwei Briefe, die er von Melchior Ghisels erhalten hatte. Dann saß er, das Kinn auf beide Hände, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Er hätte längst zu Bett gehen sollen, doch in seiner Brust war eine nicht zu beschwichtigende Unruhe. Von der Straße herauf tönte ein langer, schriller Pfiff. Der Regen rauschte auf die Bäume. Er sprang auf, ging herum, blieb dann vor dem Bücherregal stehen. Jedes einzelne Buch war ein Freund. Er hatte sie nach und nach von seinem Taschengeld gekauft oder sie sich von der Großmutter schenken lassen, manche hatte ihm auch der Vater geschenkt. Den ersten Platz nahmen die Schriften seines geliebten Melchior Ghisels ein, vier schöngebundene Bände mit eigenhändiger Widmung des Autors. Dieser war ihm wie ein Gott und jeder Satz in den Büchern eine Offenbarung. So kann nur ein Sechzehnjähriger einen Schriftsteller verehren. So reine Glut hegt nur der unentfachte Geist. Die Bewunderung, mit der Etzel an dem Mann und seinem Werk hing, war zugleich voll Zärtlichkeit. Ghisels, ein Autor von Kierkegaardscher Tiefe, war ihm Prophet und Führer. Oft las er vor dem Einschlafen eine halbe Seite, ganz langsam, mit atemloser Andacht, ein schon zehnmal gelesenes Kapitel, dann verlöschte er schnell das Licht und lächelte in den Schlummer hinein. Er kannte Ghisels persönlich nicht. Er hatte ihm einmal geschrieben, als er ihn um die Inschrift bat, und ein zweites Mal, sehr schüchtern, um ihn über den Sinn einer schwierigen Stelle in einem schönen Aufsatz über die Lebensalter zu befragen. Der Buchhändler Thielemann, Roberts Vater, hatte ihm die Adresse gegeben; seit er wußte, daß Ghisels in Berlin lebte, war Berlin ein heiliges Lhasa für ihn. Er war eifersüchtig auf Melchior Ghisels, wie man auf einen Juwelenschatz eifersüchtig sein kann, und es erfüllte ihn mit Genugtuung, daß seine Schriften nur von wenigen gekannt waren. Lärmender Ruhm, den zu erringen die Werke freilich wenig Eignung besaßen, hätte ihn vielleicht ernüchtert. Camill Raff hatte ihm dieses Reich hoher Gedanken als erster erschlossen; im vorigen Sommer, als er krank gewesen, hatte ihn Dr. Raff besucht und ein Buch von Ghisels mitgebracht, aus dem er ihm einen ganzen Nachmittag lang vorlas.
Er nahm eines von Ghisels’ Büchern vom Ständer, legte sich damit bäuchlings auf die Erde, schlug das Buch auf und begann zu lesen. Nur so, bäuchlings auf dem Boden, war er fähig, sich ganz beim Lesen zu sammeln. Allein nach einer Weile hörte die Hand auf, die Blätter umzuschlagen, die Stirn sank auf den Oberarm, die Beine streckten sich, er schlief. Erst um zwei Uhr nachts erwachte er wieder, sah sich verstört um, sprang in die Höhe, streifte hastig die Kleider vom Leib, drehte den Lichtschalter ab und schlüpfte geräuschlos ins Bett. Den Kopf schon in die Kissen gegraben, murmelte er etwas Bestürztes und Entschuldigendes vor sich hin und streckte wie ein zehnjähriger Fratz in verschlafener Beschämung gegen sich selber die Zunge heraus.
Die Generalin Andergast gehörte zu der aussterbenden Gattung weiblicher Originale. Sie war eine Frau von dreiundsiebzig Jahren, der man aber ihr Alter nicht ansah. Sie war von kleiner Gestalt, äußerst beweglich, sogar ein bißchen fahrig, hatte lebhafte Züge, geschwinde, neugierig glänzende Augen, über denen sie, wenn sie allein war, ihres Gebrechens wegen einen grünen Papierschirm trug, und die helle, frische Stimme eines jungen Mädchens. Sie war schon seit zwanzig Jahren Witwe, nach dem Tode ihres Mannes, der ein böser Tyrann und Hypochonder gewesen war, hatte sie begonnen zu leben und hatte große Reisen gemacht, war in Syrien und in Indien gewesen und mehrere Monate bei einer verheirateten Kusine in Südamerika. Sie hatte Weltverstand und versprengte künstlerische Neigungen, ihre Lieblingsbeschäftigung war die Malerei; trotz ihrer leidenden Augen verbrachte sie jeden Tag eine Stunde in ihrem Atelier und malte mit hingebender Geduld Bilder im Stil der französischen Impressionisten, geschmackvoll und bescheiden. Wenn jemand von ihren Bildern sprach oder sie zu sehen verlangte, errötete sie wie ein Backfisch und lenkte die Unterhaltung schnell auf ein anderes Thema. Mit ihrem Sohn, dem Oberstaatsanwalt, vertrug sie sich nicht gut. Er war ihr zu herrschsüchtig und erinnerte sie dadurch unangenehm an ihren verstorbenen Gatten; da er ihre Ungezwungenheit im Verkehr, ihre nachlässige Geldwirtschaft und ihren völligen Verzicht auf matronenhafte Würde sichtlich, wenn auch stumm, mißbilligte, hatte sie immer Angst vor ihm und atmete erleichtert auf, wenn er sich mit zeremoniösem Handkuß verabschiedet hatte. „Ich kann nicht alle Tage vor der sittlichen Weltordnung erscheinen und Rechenschaft ablegen, dazu bin ich ein zu fehlerhaftes und furchtsames Wesen“, seufzte sie, wenn er ihr ehrerbietig mit seiner sanftesten Stimme eine Übereilung, einen gesellschaftlichen Verstoß zum Vorwurf machte. Seit der Scheidung von seiner Frau war sie ihm übrigens in tieferem Sinne gram als wegen seiner Förmlichkeit und freudlosen Grundsätze. Es war niemals zwischen ihnen zur Aussprache gekommen, aber Herr von Andergast täuschte sich nicht darüber und notierte es zensorhaft, wenn man sich mit ihm und seinem Tun nicht schrankenlos einverstanden erklärte. Die Generalin verzieh ihm die Härte nicht, mit der er die Frau, die Mutter seines Kindes, zum seelischen Tod verurteilt hatte. Die Nachrichten, die man über sie erhielt, sprachen von einem langsamen Hinsiechen, dem sie in der Fremde verfallen war. Alle Macht war in seiner Hand; er hatte sich der Macht bis zum Äußersten bedient, natürlich unter gewissenhafter Beobachtung des Gesetzes, das auf seiner Seite war. Ob die Generalin für Sophia von Andergast vor der Scheidung irgendwelche Sympathie gehegt, steht dahin, nachher jedenfalls und als sie schon längst die Stadt verlassen hatte, sprach sie mit unverhohlenem Mitgefühl von ihr, ja, eines Tages ging sie so weit, sich im Salon einer ihrer Bekannten über die Grausamkeit zu entrüsten, die darin lag, eine Mutter von jeglicher Verbindung mit ihrem Kind abzuschneiden und eine so erbarmungslose Maßregel unabänderlich, unappellabel zu machen. Die Anwesenden wußten nicht, wohin sie schauen sollten, es war ein kleiner Skandal, hervorgerufen allerdings durch die taktlose Bemerkung eines jungen Referendars, der, entweder aus schäbigem Servilismus oder weil er ein geborener Strammsteher war, die „Schneidigkeit“des Herrn von Andergast nicht genug rühmen konnte.