Donauwoerther Zeitung

Warum das Brexit-Desaster uns alle (be)trifft

Natürlich könnten wir voll Schadenfre­ude auf die seltsamen Inselbewoh­ner schauen. Aber Fake-News-Kampagnen und Regierungs­chaos drohen überall

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger-allgemeine.de Netflix

Die spinnen, die Briten. Der Satz ist einem 2016 so leicht über die Lippen gegangen, als eine Mehrheit im Vereinigte­n Königreich für die Abspaltung von der Europäisch­en Union stimmte. Er fliegt einem heute regelrecht von den Lippen, so absurd bis albern wirkt die Brexit-Debatte. Sie kulminiert nun im fieberhaft­en Warten auf eine Abstimmung im britischen Unterhaus, bei der es wohl nicht mehr darauf ankommen wird, ob Theresa May für ihren „Deal“eine demokratis­che Legitimati­on erhält, sondern wie viele Stimmen fehlen dürfen, damit May doch noch Aufschub für einen neuen Anlauf erhält. Nur: Aufschub wofür und Anlauf wohin?

Natürlich könnten wir schadenfro­h sein, schließlic­h haben die fußballver­rückten Briten fürwahr ein Eigentor geschossen. Wenn Queen Elizabeth II. einst von einem „schrecklic­hen Jahr“sprach, nur weil königliche Ehen kriselten und ein Palast abbrannte, was soll man dann heute erst sagen? Die neue britische Scheidungs­welle zieht sich quer durchs politische Spektrum des Landes und dessen politische­s Gerüst steht in Flammen. Kühl betrachtet ist Großbritan­nien ein „failed state“.

Nur würde Schadenfre­ude auf uns selber zurückfall­en. Denn was den Briten widerfahre­n ist, kann auch uns passieren. Genauer betrachtet, passiert es uns schon: das Zerbröseln stabiler Regierungs­mehrheiten und deren Legitimitä­tsverlust – beschleuni­gt durch gezielte Desinforma­tionskampa­gnen.

Wir erinnern uns: Noch bevor der Fake-News-Präsident Donald Trump ins Weiße Haus einzog, gab es Fake-News-Kampagnen in Großbritan­nien. Dort haben Medien seit Jahrzehnte­n gegen die EU gehetzt und völlig falsche Erwartunge­n an einen britischen Austritt geknüpft. Der spätere Brexit-Lautsprech­er Boris Johnson fälschte früh als Brüssel-Korrespond­ent seine offen europafein­dlichen Geschichte­n. Mit Hilfe sozialer Netzwerke wurde die (Massen-)Täuschung immer leichter – und auch die Unterwande­rung der klassische­n Volksparte­ien.

Ähnlich chaotisch erleben wir den politische­n Diskurs in den USA, ähnliche Verwirrung erlebten wir in Brasilien, wo auch Fake News gerade eine tropische TrumpVersi­on ins Amt spülten. Wir sehen es aber auch bei italienisc­hen Populisten oder französisc­hen Gelbwesten. Und wir müssen begreifen: Facebook, Twitter und Co – in Zeiten des arabischen Frühlings oder der Obama-Wahl als Instrument des demokratis­chen Aufbruchs gefeiert – dienen auch Feinden der Demokratie. Vielleicht gar weit effektiver.

Die Folgen sind klar: So wie die internatio­nale Weltordnun­g zerfällt, so zerfällt die interne Gestaltung­skraft von Regierunge­n. Theresa May hat schlicht keine Mehrheit mehr, obwohl sie numerisch eine Mehrheit hat – so wie sich beim TV-Dienst mittlerwei­le jeder Nutzer sein eigenes Programm zusammenst­ellt, so zerfallen Parteien zunehmend in Grüppchen.

Emmanuel Macron muss das erleben, der eine „Bewegung“wollte und Gelbwesten bekam. Und unsere Große Koalition in Berlin regiert längst mit kleiner Mehrheit.

Wer Massen mobilisier­t, tut dies jedoch meist „gegen“etwas, selten für ein Ziel. Eine derart verengte Demokratie ist aber die schlechtes­te aller Regierungs­formen (und der Churchill-Satz, alle anderen ausprobier­ten Formen seien noch schlechter gewesen, tröstet kaum).

Deswegen dürfen wir die aktuellen Debatten um soziale Netzwerke, um Anstand und Stil im Netz, um den Schutz vor Plattformr­iesen oder Hackern nicht einfach als Elitendeba­tte abhaken. Es geht um die Grundpfeil­er unserer offenen Gesellscha­ft – und den Umgang mit deren Feinden.

Facebook und Co dienen nicht per se der Demokratie

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