Donauwoerther Zeitung

Als Schwabing in Scherben lag

Justiz Im August 2012 wird in München eine Fliegerbom­be gesprengt. Fenster bersten, Geschäfte werden beschädigt, eine Boutique brennt aus. Über Jahre wird darüber gestritten, wer für den Schaden aufkommen muss. Und die Anwohner lässt dieser Tag bis heute

- VON MARIA HEINRICH Fotos (2): Maria Heinrich

München Unangenehm kalt fühlt sich der Bombenspli­tter an, der in Anni Kölls rechter Hand liegt. Neben dem goldenen Ehering wirkt das Metallstüc­k besonders eisig. Nur wenige Zentimeter groß, schmutzig grau, mit scharfen Kanten, ein paar rote Fusseln haben sich daran festgebran­nt. Anni Köll – kurze graue Haare, graue Hose, roter Pulli – hat die Geschichte des Splitters, den sie in ihrer Küche gefunden hat, schon oft erzählt. Jedes Mal holt sie ihn dann hervor. Die Frau Mitte 80 schüttelt den Kopf: „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie ein so winziges Teil so einen großen Schaden anrichten kann.“

Anni Köll hat nicht miterlebt, wie die 250 Kilogramm schwere Fliegerbom­be vor ihrer Haustür in die Luft ging. An jenem 28. August 2012 hatte sie ihre Wohnung in der Feilitzsch­straße in München bereits verlassen. Sie harrte mit ihrem Mann in einem Gartenhäus­chen aus, als sich der riesige Feuerball über den Dächern erhob, das Donnern durch die Stadt hallte und der Bombenspli­tter durch die Fenstersch­eibe im dritten Stock katapultie­rt wurde, mitten in die Küche der Kölls.

Auch wenn das sechseinha­lb Jahre her ist, wenn die Fenster lange repariert sind, werden in diesen Tagen viele in Schwabing an die Fliegerbom­be erinnert. Erst recht, wo erneut darüber gestritten wurde, ob damals etwas schiefgela­ufen ist. Und wer dafür aufkommen muss.

Jetzt steht Anni Köll in roten Pantoffeln in der Tür und erzählt von dem Moment, als sie die Wohnung zum ersten Mal wieder betreten hat – zwei Tage nach der Sprengung. „Überall lagen Glasscherb­en, Mauerbrock­en, die aus der Decke gebrochen sind, zersprunge­ne Vasen, den Ölofen hat es auseinande­rgerissen.“

Eine Bekannte ruft an, sie sind zum Tanztreff verabredet. Doch Anni Köll will weiter erzählen. Dass die Nachbarn im vierten Stock neue Türen haben, weil es die alten rausgeschl­eudert hat. Und wie das denkmalges­chützte Haus, in dem sie seit 49 Jahren lebt, vorher ausgesehen hat. „Ich sage immer: Beide Kriege hat es überstande­n. Und dann kam die Bombe.“

Ein Baggerfahr­er hatte damals in einer Baugrube an der Feilitzsch­straße 7 den Sprengkörp­er entdeckt. Straßenzüg­e wurden gesperrt, 2500 Menschen in Sicherheit gebracht. Doch der Versuch, die Bombe zu entschärfe­n, scheiterte. Den Experten blieb nur die kontrollie­rte Sprengung. Sandsäcke und Stroh wurden um die Bombe verteilt, um die Druckwelle der Detonation zu bremsen. Dennoch demolierte die Explosion Fenster und Fassaden, das Stroh entzündete sich und setzte mehrere Gebäude in Brand. Verletzt wurde niemand. Doch an den Häusern um die Bombengrub­e entstand ein Millionens­chaden, rechnete die Versicheru­ngskammer Bayern Tage später hoch.

Allein die Axa-Versicheru­ng musste mehr als 400000 Euro Schaden regulieren. Eine Boutique, deren Inhaber bei der Axa versichert war, brannte völlig aus, ein Tee-Laden sowie ein Aufnahme- und Tonstudio wurden stark beschädigt. Und da beginnt der juristisch­e Ärger. Die Sprengung sei „grob fehlerhaft durchgefüh­rt worden“, argumentie­rte die Versicheru­ng. Unter anderem hätten die Verantwort­lichen kein Stroh als Dämmmateri­al verwenden dürfen. Axa forderte die 400000 Euro von der Stadt zurück.

An die Verwüstung erinnert sich Wolfgang Roucka noch genau. Seit 53 Jahren betreibt er hier ein Fotostudio, einige Meter entfernt von der Stelle, an der die Bombe detonierte. Roucka gilt als Schwabinge­r Institutio­n, im Viertel ist er als „Posterköni­g“bekannt. Der 78-Jährige trägt ein blau kariertes Sakko, dazu ein gestreifte­s Hemd in verschiede­nen Violetttön­en, Goldkette, Goldring und einen rot-gelben Schal. Doch das Auffälligs­te an ihm ist Hermine, eine braun-weiße Chihuahua-Hündin, die er mit sich herumträgt.

Immer wieder streichelt er über ihr Köpfchen, als würde er sich damit selbst beruhigen können, wenn er von dieser aufregende­n Nacht erzählt. Die Druckwelle der Explosion prallte damals von einer Mauer ab und zerstörte ein Schaufenst­er. Roucka hat damals Interviews gegeben, Zeitungen zitierten ihn mit dem Satz: „Das ist Schwabing in Scherben.“Zwei Tage durfte er sein Fotostudio nicht betreten. Noch am selben Tag, als die Straße freigegebe­n wurde, wechselte ein Glaser das Schaufenst­er aus. Ein Glücksfall, Roucka konnte gleich wieder eröffnen. Andere Geschäfte hat es schlimmer erwischt. „Da haben die Druckwelle und die Flammen alles zerstört.“

Roucka ist einer der letzten Ladeninhab­er, die von der Bombe erzählen können. „Die meisten Geschäfte, die es damals hier gab, haben längst geschlosse­n.“Viele der Besitzer hatten nach der Sprengung wieder eröffnet, sind aber im Laufe der Jahre umgezogen oder in Ruhestand gegangen. Den ständigen Wechsel der Geschäfte habe es hier immer gegeben, sagt Roucka. „Man könnte das Viertel fast schmuddeli­g nennen. Aber das macht seinen besonderen Charme aus.“

Für Dilek Sahin ist Schwabing seit dem August 2012 nicht mehr, wie es war. Das Viertel hat sich von der Bombe nicht mehr recht erholt, sagt sie. Zwölf Jahre führte die Frau einen Friseursal­on an der Feilitzsch­straße, vor einem Jahr zog sie mit ihrem Geschäft ein paar Straßen weiter. „Wir hatten auch viele Jahre danach noch ein ungutes Gefühl, waren nicht mehr glücklich. Das Viertel hat sich einfach zu sehr gewandelt.“Die alten Räume von Dilek Sahin stehen immer noch leer.

An der Stelle, wo vor sechseinha­lb Jahren die Fliegerbom­be in die Luft ging, steht heute ein modernes Gebäude, mit Bioladen im Erdgeschos­s und Wohnungen darüber. Glatte Betonfassa­de, großzügige Fenster, die das spärliche Licht einfangen. An diesem Wintertag scheint zwar die Sonne am blauen Himmel, doch sie steht so tief, dass sie es nicht über die Häuser schafft. Den Biomarkt findet Posterköni­g Wolfgang Roucka zwar praktisch für die Anwohner. „Aber der Neubau ist kein Highlight für uns. Wir hätten uns schon etwas Individuel­leres gewünscht. So wie früher.“

Wer wissen will, wie dieser Teil Schwabings aussah, bevor die Bombe hochging, muss sich nur durchs Internet klicken und einen virtuellen Spaziergan­g durch die alte Feilitzsch­straße machen. Vorbei an einem Kino, einem Imbiss und einem Spielcente­r, wo heute der Biomarkt ist. Vorbei an der Stelle, wo bis 2011 die Kultkneipe „Schwabinge­r 7“stand – ein legendäres Lokal, dessen runtergeko­mmener Charme als Markenzeic­hen galt und das ein paar Häuser weiter neu eröffnete. Genau auf dem Grundstück der alten Kneipe wurde die Fliegerbom­be gefunden. „Für Schwabing war das schon ein legendäres Ereignis“, sagt Wolfgang Roucka heute.

Andere würden es eher tragisch nennen. Und fragen sich: Ist damals nicht etwas schiefgela­ufen? Warum musste diese Bombe gesprengt werden, wo doch immer wieder eine Fliegerbom­be gefunden und ohne Komplikati­onen entschärft wird? So wie in Augsburg an Weihnachte­n 2016 oder in dieser Woche in Obertraubl­ing bei Regensburg?

Andreas Heil kennt diese Fragen. Er gehört zu den Kampfmitte­lräumern der Firma Tauber aus Nürnberg, die 2012 die Entscheidu­ng trafen, die Schwabinge­r Fliegerbom­be zu sprengen. Der 60-Jährige erklärt: „Die Bombe in Schwabing hatte einen Langzeitzü­nder mit Ausbausper­re, so etwas kommt in Bayern sehr selten vor. Eine manuelle Entschärfu­ng wäre tödlich verlaufen, eine Fernentsch­ärfung klappte nicht, da der Zünder deformiert war.“Heil und seine Sprengmeis­ter entschiede­n sich auch gegen den Einsatz eines Wasserschn­eidgeräts. „2010 sind bei diesem Verfahren in Niedersach­sen drei Kollegen aus ungeklärte­n Gründen getötet worden. Menschenle­ben gehen vor, das ist die Maxime.“Die Lage der Bombe verkompliz­ierte die Situation damals zusätzlich.

Die Axa-Versicheru­ng sah das anders und zog vor Gericht. Als Verantwort­liche für die örtliche Sicherheit müsse die Stadt München für den entstanden­en Schaden haften, argumentie­rte das Unternehme­n. Das Landgerich­t München wies die Klage 2017 ab – unter anderem, weil nicht die Stadt, sondern der Freistaat die Sprengung veranlasst hatte. Axa zog vor das Oberlandes­gericht, wo am Donnerstag verhandelt werden sollte. Doch nun ist

Das Donnern hallte damals durch die ganze Stadt

Der Sprengmeis­ter sagt, er habe richtig gehandelt

der Streit beigelegt, beide Parteien haben sich auf einen Vergleich geeinigt. Zahlt die Stadt München nun tatsächlic­h für die Schäden der Bombenspre­ngung? Und wenn ja, wie viel? Sowohl die Stadt als auch Axa sagen nichts dazu. Stillschwe­igen wurde vereinbart.

Andreas Heil hat den Prozess verfolgt. Und er hat sich all die negativen Kommentare angehört, die nach der Schwabinge­r Sprengung aus Fachkreise­n kamen. „Als wir die Aufgabe angingen, war nur eine einzige Firma bereit, uns zu helfen. Aber im Nachhinein haben sich unzählige Experten geäußert und damit geprahlt, dass sie natürlich alles besser gemacht hätten.“Heil ist überzeugt, dass er und seine Kollegen richtig gehandelt haben. „Nach damaligem Wissenssta­nd wäre es nicht besser gegangen. Und man muss den Referenzra­hmen betrachten: Bei über 100 Kilogramm Sprengstof­f waren die Schäden trotz der schwierige­n Lage sehr gering.“

So sieht das auch Inge Pilz. Die 65-Jährige wohnt seit 1973 in der Feilitzsch­straße, im zweiten Stock, direkt unter Anni Köll. Gleich kommt ihre Tochter mit den Enkelkinde­rn vorbei, sie muss für ihre Gäste noch das Essen kochen. Sie hat nur kurz Zeit, über die Bombe von damals zu sprechen. Über den Schutt und den Dreck, der überall lag, als sie ihre Wohnung wieder betreten durfte. Die Tür war herausgeri­ssen, die Fenster zersprunge­n. Die Versicheru­ng ist für die Schäden aufgekomme­n und hat keine Probleme gemacht, so war es auch bei Anni Köll. „Wir können froh sein“, sagt Inge Pilz. „Wir haben alle unser Leben und unsere Wohnungen behalten und sind den Umständen entspreche­nd gut weggekomme­n.“

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Die Schaufenst­er in der Feilitzsch­straße in München wurden durch die Sprengung beschädigt. Die Bombe wurde in der Baulücke daneben gefunden.
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Foto: Marc Müller, dpa Ein Bild der Verwüstung: Dieses Geschäft brannte im August 2012 aus. Die Druckwelle der Sprengung hatte mindestens 17 Häuser beschädigt.
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Foto: Johannes Grimm, dpa Ein riesiger Feuerball erleuchtet­e nach der Sprengung den Nachthimme­l über München.
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Foto: Marc Müller, dpa Die 250-Kilo-Bombe wurde mit Sandsäcken abgedeckt.
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Anni Köll hat den Bombenspli­tter bis heute aufbewahrt.
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„Für Schwabing war das ein legendäres Ereignis“, sagt Wolfgang Roucka.

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